Lauterbach: „Das System muss sich ändern.“
Im ZEIT-Streitgespräch mit Susanne Johna, Vorsitzende des Ärzteverbandes Marburger Bund, redet Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach über die geplante Krankenhausreform und die Zukunft der Kliniken. In Deutschland gäbe es zu viele stationäre und unnötige Behandlungen, weil Krankenhäuser unter zu großem wirtschaftlichem Druck stünden. Das müsse sich im Sinne der Patienten ändern. Eingriffe dürften nur in Kliniken mit den notwendigen Qualitätsanforderungen durchgeführt werden.
DIE ZEIT: Frau Johna, Sie kritisieren Karl Lauterbachs geplante Krankenhausreform. Macht der Minister die Kliniken kaputt?
Susanne Johna, Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund: Wir sind sehr froh, dass es eine Krankenhausreform gibt, denn die ist seit vielen Jahren überfällig. Nicht gut finden wir aber, dass dabei das System der Fallpauschalen erhalten bleiben soll.
Fallpauschalen sind vereinfacht gesagt fixe Summen, die für bestimmte Krankheitsbilder pro Patient abgerechnet werden. Frau Johna, Sie arbeiten als Internistin in einem Krankenhaus. Können Sie einmal sagen, was das konkret für einen Patienten und einen Arzt bedeutet?
Johna: Für den Patienten bedeutet es erstmal gar nichts. Für den Arzt bedeutet es, dass er unendlich viel Zeit damit verbringt, komplizierte Formulare auszufüllen. Die Idee hinter den diagnosebezogenen Fallpauschalen ist, dass zum Beispiel eine Blinddarm-Entfernung im Krankenhaus A genauso bezahlt wird wie im Krankenhaus B. Karl Lauterbach will diese Pauschalen zwar finanziell weniger gewichten. Das System als solches mit seinen 1300 Pauschalen bleibt aber erhalten und das kostet viel Geld und Zeit.
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Die Leidtragenden der Fallpauschalen sind die Patienten und nicht die Ärzte. Denn die Fallpauschale ist wie ein Preisschild, mit dem der Patient in die Klinik kommt. Hat er einen komplizierten Meniskusschaden mit einem Kreuzbandriss kommen zum Beispiel 4000 Euro zur Tür herein. Ein Klinikarzt, der von seiner Geschäftsführung unter ökonomischem Druck steht, wird zusehen, dass er diesen Patienten nicht verliert. Er wird dem Patienten daher erklären, dass die Klinik den Eingriff gut beherrscht – auch wenn das möglicherweise nicht ganz stimmt.
Und trotzdem wollen Sie das Preisschild beibehalten?
Lauterbach: Nein, das will ich nicht. Künftig sollen Kliniken mehr Geld dafür bekommen, dass sie das nötige Personal, den Operationssaal und die Technik für den Eingriff bereithalten, nicht nur für den Eingriff selbst.
Wäre ein Patient ganz ohne Preisschild nicht humaner?
Lauterbach: Nein, denn dann bekäme eine Klinik den vollen Betrag auch dann gezahlt, wenn sie gar nicht mehr operiert. Dann könnten selbst sinnvolle Operationen ausbleiben, weil das für die Klinik günstiger ist.
Johna: Das Wort Preisschild würde ich so nicht akzeptieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass die allermeisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken nach wie vor eine ganz starke innere Motivation haben, ihre Patienten so gut wie möglich zu behandeln. Sie betrachten sie nicht als Cash-Cows.
Lauterbach: Wir wollen unnötige stationäre Aufenthalte verhindern. Deutschland ist derzeit Weltmeister darin, Patienten für Behandlungen ins Krankenhaus aufzunehmen, die im Ausland schon lange ambulant erbracht werden. Der Grund: Nur bei der stationären Behandlung bekommt die Klinik die volle Bezahlung. Das müssen wir ändern. Mehr ambulante Versorgung ist auch im Sinne der Patienten. Bei älteren Menschen zum Beispiel steigt das Demenz-Risiko mit jedem Tag im Krankenhaus.
Johna: Das ist mir zu einseitig. Wir machen mehr stationäre Eingriffe als die meisten anderen Länder, das stimmt. Das liegt aber nicht nur an der Vergütung. Wir werden gerne mit Dänemark verglichen. Dabei ist unsere Bevölkerung viel älter. Dadurch haben Patienten hierzulande oft mehrere Erkrankungen gleichzeitig. In Dänemark kann ich außerdem als Ärztin verordnen, dass ein Pflegedienst den Patienten sechs Mal am Tag zuhause besucht. In Deutschland fehlt uns dafür das Personal.
Während Johna spricht, hat Karl Lauterbach angefangen, ein Dreieck auf ein Din-A4-Blatt zu malen. Oben steht: Ent-Ökonomisierung. An den beiden unteren Ecken: Bürokratie und Qualität.
Lauterbach: Das ist meine Reform in einer Nussschale. Ich will den Patienten wieder als Mensch sehen, der hoffentlich bald wieder arbeiten geht oder Sport machen kann. Dafür ist die Qualität wichtig. Die lässt sich gut nachprüfen.
Johna: Da muss ich leider widersprechen. Natürlich können Sie erfassen, wie häufig ein bestimmter Eingriff in einer Klinik gemacht wird. Aber wie gut er gemacht wird, ist schwer zu sagen. Nehmen wir einen Extremfall: Nach einer Tumoroperation stirbt ein Patient. Das ist messbar – aber es heißt nicht, dass die Behandlung schlecht war. In einer Uniklinik zum Beispiel werden oft besonders schwere Fälle behandelt. Allein deshalb werden dort häufiger Menschen sterben als anderswo. Das heißt aber nicht, dass die Uniklinik schlechter ist. Medizin ist nicht schwarz-weiß, da ist auch ganz viel grau.
Was bringt es dann, die Kliniken in drei Stufen einzuteilen, Herr Lauterbach? Sie wollen sie sortieren von Grundversorgern bis Großkrankenhäusern wie Unikliniken.
Lauterbach: Das bringt zunächst einmal Transparenz. Es zeigt selbst Laien: Welche Klinik darf welche Behandlungen anbieten – und erfüllt sie dafür die Qualitätsvoraussetzungen? Eingriffe am Herzen beispielsweise, mit denen Rhythmusstörungen bekämpft werden, sind kompliziert. Das dürfen derzeit viel zu viele Kliniken machen. Demnächst sollen den Eingriff nur noch diejenigen machen dürfen, die die Voraussetzungen dafür erfüllen, die bestimmte Geräte besitzen und Fachkräfte, die rund um die Uhr da sind. Genau dafür bekommen die Kliniken dann Geld. Ob sie die für diese Leistungen notwendigen Qualitätsanforderungen erreichen, ist eine unfassbar wertvolle Information.
Johna: Das klingt aus Sicht des Patienten erstmal gut. Aber wir müssen auch schauen: Wie verändert das die Krankenhaus-Landschaft, beispielsweise die Versorgung in der Fläche? Und wie reagieren die Mitarbeiter? Sie sagen: Wir haben in Deutschland mehr Betten als jedes andere Land. Das stimmt zahlenmäßig. In Wirklichkeit können mehr als 20 Prozent davon nicht belegt werden, weil das Personal fehlt. Und ich sage voraus: Es wird noch mehr fehlen. Für viele Patienten mag ein längerer Anfahrtsweg zur Klinik kein Problem sein, jedenfalls wenn sie nicht akut krank sind. Bei den Mitarbeitern sieht das anders aus, gerade für Teilzeitkräfte mit einem langen Weg zur Arbeit. Bevor die ins nächste Krankenhaus wechseln, wenn ihre Klinik umstrukturiert oder gar geschlossen werden musste, werden viele lieber eine neue Tätigkeit in ihrer Region suchen.
Karl Lauterbachs Reform wird den Pflegekraft-Mangel im Krankenhaus noch verschärfen?
Johna: Das fürchte ich. Viele Pflegefachkräfte, aber auch Ärzte, vor allem ältere, werden sagen: Das tue ich mir nicht mehr an, ich höre auf.
Lauterbach: Nein, die Reform wird den Fachkräftemangel keineswegs verschärfen. Wenn künftig mehr ambulant gemacht, wird es weniger unnötige Krankenhausaufenthalte und Eingriffe geben. Zum Beispiel werden in Deutschland so viele Herzklappen über einen Katheter eingesetzt wie sonst nirgends auf der Welt. Viele dieser Eingriffe sind medizinisch nicht zwingend notwendig, aber sehr lukrativ. Da werden Kardiologen unter Druck gesetzt von Klinikleitungen, die sagen: Kannst du das nicht auch machen? Die erste Generation solcher Patienten hat für den wirtschaftlichen Druck einen hohen Preis bezahlt. Sie wissen so gut wie ich, wie viele Schlaganfälle dabei entstanden sind. Wenn dieser Druck wegfällt, können sich Pflegekräfte und Ärzte viel besser um die verbleibenden Patienten kümmern. In eine andere Klinik wechseln müssten sie nur, wenn ihr Krankenhaus in die Pleite geht – und das würde ohne Reform in vielen Fällen der Fall sein.
Johna: Wenn man mehr ambulant behandelt, braucht man auch Personal. Die niedergelassenen Kollegen sagen doch momentan nicht: Wir haben schrecklich wenig zu tun und könnten locker dreißig Prozent mehr Fälle aus den Kliniken übernehmen. Auch die besagten Herzklappen-Eingriffe ohne Operation erfordern jetzt schon hohe personelle und strukturelle Voraussetzungen. Das macht doch gar keine kleine Klinik! Ich kann auch nicht zu einem spezialisierten Operateur sagen: Du bist doch mal Allgemeinchirurg gewesen, dann arbeite wieder in diesem Bereich, auch wenn Du das schon seit 20 Jahren nicht mehr gemacht hast.
Ist Karl Lauterbach als Minister zu weit entfernt von der Praxis?
Johna: Wir würden uns wünschen, dass in der Umsetzung jetzt auch wir Ärztinnen und Ärzte mit an den Tisch kommen, die tatsächlich in dem System arbeiten.
Lauterbach: Praktiker sind an der Reform beteiligt – keine Frage. In unserer Kommission sind Praktiker, oft aus der Klinik zugeschaltet in unseren Besprechungen. Dass sich jeder Verband in dieser Phase der Planung wiederfindet, ist weniger wichtig. Sie werden ausgedehnt im parlamentarischen Verfahren beteiligt. Die Reform so schnell wie möglich ohne Lobbydruck durchzubringen, hat hohe Priorität. Wir stehen wirklich am Vorabend eines Krankenhaus-Sterbens. Das kann ich nicht mehr aufhalten. Das marode System habe ich von meinen Vorgängern übernommen. Es ist zu lange nichts passiert. Wir können die Kliniken auch nicht noch einmal per Gießkanne retten, denn dafür hat der Bundesfinanzminister kein Geld. Es werden leider auch Kliniken sterben, die gar nicht mal schlecht sind.
Johna: Wir müssten aber doch wenigstens die Kliniken retten, die in die Notfallversorgung eingebunden sind. Die Notaufnahmen stoßen schon jetzt an ihre Grenzen. Sie, Herr Lauterbach, betonen gerne, dass wir eine Überversorgung haben. Gleichzeitig aber haben wir in manchen Bereichen auch eine klare Unterversorgung. Nehmen Sie zum Beispiel die Behandlung von chronisch Kranken, etwa Patienten mit Rheuma. Wenn Strukturen knapp werden, weil Krankenhäuser aufgeben müssen, werden wir Wartelisten bekommen. Deswegen frage ich mich: Können Sie Ihr Leistungsversprechen wirklich halten?
Lauterbach: Ich sehe in der Reform eine Win-Win-Situation. Die Patienten bekommen eine bessere Qualität, weil die Eingriffe dort gemacht werden, wo sie am besten erbracht werden können. Überflüssige Eingriffe werden vermieden. Wir geben für die Krankenhausversorgung 3,4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes aus – das ist europäische Spitze.
Johna: Das liegt aber auch daran, dass wir uns mehr leisten als andere Länder. In Großbritannien zum Beispiel gibt es für viele Eingriffe faktisch Altersgrenzen. Auch in nordischen Ländern gibt es Priorisierungen. Ich bin kein Freund solcher Begrenzungen, aber wir müssen offen darüber diskutieren: Wie stellen wir uns die Gesundheitsversorgung der Zukunft vor? Selbst wenn wir heute die Medizinstudienplätze erhöhen würden, haben wir frühestens in zwölf, eher in 15 Jahren zusätzliche Fachärzte. Der Mangel wird uns weiter begleiten.
Lauterbach: Da stimme ich Ihnen zu, Frau Johna. Das Krankenhaus-Sterben kommt, mit der Reform und ohne Reform. Aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehen wir trotzdem gut da. Denn wir haben viele Krankenhäuser, eine höhere Ärztedichte und auch eine höhere Pflege-Dichte. Von einer Debatte über Altersgrenzen für Eingriffe sind wir Lichtjahre entfernt. Momentan schadet eher die Überversorgung den Patienten.
Johna: Einzelfälle wird es irgendwo immer geben. Um noch einmal auf Ihr Beispiel mit den Schlaganfällen nach Herzklappen-Eingriffen zu kommen: Das sind oft Patienten, die ohne den Eingriff schwerstkrank sind oder gar kurzfristig sterben. So ein Patient sagt Ihnen oft: Mir ist egal, wie hoch mein Risiko für den Eingriff ist, solange ich nie wieder das Gefühl habe, ich ertrinke in meiner eigenen Lunge. Solche Patienten gehen hohe Risiken ein, in der Hoffnung, dass sie überhaupt eine Chance haben.
Lauterbach: Die Wahrheit ist auch, dass beispielsweise ältere Menschen, obwohl ihr Tod absehbar ist, zu oft noch auf die Intensivstationen gebracht werden, weil das abgerechnet werden kann. Das ist inhuman – eine tödliche Spirale: Die Häuser brauchen das Geld, denn ohne Budget können sie das Personal nicht bezahlen. Und dann leidet die Qualität noch mehr. Verstehen Sie das bitte nicht als Vorwurf ans Krankenhauspersonal. Ich kenne sehr, sehr viele Ärzte, ich kenne das System in und auswendig. Ich kritisiere nicht die Menschen, die im System arbeiten. Ich will das System ändern.