Lauterbach: Elektronische Patientenakte bringt Entbürokratisierung und entlastet Ärzte und Pflegekräfte
Im Interview mit dem SPIEGEL spricht Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach u. a. über die Vorteile der elektronischen Patientenakte für Patienten und Forschung - und darüber, wie KI-Anwendungen die Arbeit von medizinischen Fachkräften vereinfachen können.
SPIEGEL Magazin: Herr Lauterbach, wie viele Schritte haben Sie heute schon gemacht?
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Das verfolge ich nicht. Ich nutze die Treppen im Ministerium und spiele, wenn es die Zeit erlaubt, hier im Haus am Abend Tischtennis. Übrigens immer gegen bessere Spieler. Das fordert. Da muss ich auf die Schritte nicht achten.
Sie tragen auch keine Uhr, die das misst.
Um Gottes Willen. Ich überwache mich doch nicht selber. In meinem Telefon gibt es zwar Funktionen, die messen die Schrittlänge und ob der Gang symmetrisch oder asymmetrisch ist. SO ETWAS könnte Hinweise auf eine beginnende Parkinsonerkrankung geben, andere neurologische Erkrankungen erkennen oder einen Leistungsabfall signalisieren. Aber das schaue ich mir nicht an.
Mehr als ein Drittel der Deutschen nutzt bereits digitale Gesundheitstracker. Manche überwachen damit nicht nur ihre Schritte, sondern auch ihren Puls oder den Blutsauerstoff. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Krankenkassen an diese Daten ran wollen – um etwa die Höhe der Beiträge für einen Patienten individuell zu berechnen?
Nein. Auf die Daten haben die Krankenkassen ohne Zustimmung der Versicherten keinen Zugriff. Daten zur Risikoselektion hat jede Kasse allerdings über die Abrechnung. Die Kassen wissen, wer wie behandelt wurde. Das gibt ihnen Aufschlüsse über die Krankheiten der Versicherten. Dieses Wissen dürfen sie aber nicht nutzen, um etwa die Höhe der Beiträge zu berechnen. Das würde auch sehr empfindlich bestraft.
Sie haben dennoch große Pläne mit den Patientendaten. Ab Anfang 2025 wollen Sie endlich die elektronische Patientenakte in Deutschland flächendeckend einführen und die Daten auch im großen Stil für die Forschung zugänglich machen.
In diesem Fall ist es ein Vorteil, spät dran zu sein. Als Vorreiter wie Estland, Lettland, Dänemark ihre Patientendaten digitalisierten, haben sie sich dafür entschieden, sie dezentral zu speichern. Das macht eine Zusammenführung und zentrale Auswertung der Daten, wie wir sie planen, nicht GUT möglich. Wir werden sie dagegen so lagern, dass wir sie an einer Stelle pseudonymisiert zusammenziehen und analysieren können. Unser System ist modern, weil hybrid. Die Daten lagern dezentral in den Praxen und zentral in der ePA.
Für viele klingt eine riesige Datenbank mit Patienteninformationen bedrohlich. Sie schwärmen aber davon, dass Deutschland zu einem weltweiten Zentrum etwa der Krebsforschung werden kann. Wie kommen Sie zu der Einschätzung?
Es wird keine »riesige Datenbank mit Patienteninformationen« geben. Wir wollen aber in einem geschützten, digitalen Raum die für ein gemeinwohlorientiertes Forschungsprojekt notwendigen Daten pseudonymisiert zusammenbringen. Dazu zählen Krebsregisterdaten, Genomdaten, Daten aus der elektronischen Patientenakte und Studiendaten. Wir wollen sie verfügbar machen für Datenanalysen oder das Training von Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren. Damit heben wir einen Datenschatz, den es bisher nirgendwo sonst gibt – das ist ein echter Gamechanger für die Forschung. Daran sind selbst amerikanische Spitzeninstitutionen, wie Harvard und MIT, interessiert. Denn die amerikanischen Gesundheitsdaten lagern wegen unterschiedlicher Abrechnungssysteme in unterschiedlichen Töpfen und können nicht so leicht genutzt werden.
Die USA sind bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz so weit, solche Daten auswerten zu können. Wir auch?
Es gibt deutsche Universitäten, Kliniken und Unternehmen, die das können. Aber der Wettbewerb ist natürlich hart. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht nur auf amerikanische KI-Lösungen angewiesen sein werden. Das wäre nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Behandlung wichtig. Die KI-Anwendungen müssen passgenau sein für deutsche Patientinnen und Patienten.
Wie wird KI den Praxisalltag und die Behandlung von Patienten verändern?
In den USA entsteht gerade ein System, das etwa so funktioniert: Wenn ich als Arzt mit einem Patienten spreche, habe ich bereits seine alten Befunde im Computersystem. Ich frage: Wie fühlen Sie sich? Was tut Ihnen weh? Die gesamte Zeit hört eine Spracherkennungssoftware zu und überträgt die Stichpunkte, die wichtig sind, aus dem Gespräch in die elektronische Patientenakte. Der Smalltalk wird automatisch rausgefiltert. Dann schreibt, während wir noch reden, die Künstliche Intelligenz die notwendige Überweisung an die Orthopädin. Wenn wir fertig sind, ist eine Überweisung schon vorbereitet und elektronisch bereitgestellt. Sollte ich diese vergessen, dann erinnert mich die KI: Moment, Herr Lauterbach, Sie sollten vielleicht eine Überweisung machen. Das ist eine unglaubliche Entbürokratisierung. Hier entsteht etwas, das wird die Medizin drastisch verändern. Es wird Ärzte und Pflegekräfte entlasten und damit den Fachkräftemangel bekämpfen. Und es wird auch die Patienten mündiger machen.
Inwiefern?
Zum Beispiel kann ich mit der KI über meine eigene elektronische Patientenakte sprechen. Sie kann mir Empfehlungen geben und ich kann sie fragen, ob bei meiner Behandlung vielleicht Fehler gemacht worden sind.
Klingt nach einer Menge Internet-Selbstdiagnosen, von denen heute schon mancher Arzt genervt ist.
Moment. Dass Patienten Diagnosen mit KI überprüfen, passiert schon heute und wird sich auch fortsetzen, selbst wenn wir die ePA nicht verbessern würden. Dann doch lieber richtig. Ich sehe ohnehin dabei vor allem die Vorteile. Viele Patienten, etwa mit Krebs, sind verzweifelt. Künftig kann die KI nicht nur Anhaltspunkte für die Behandlung geben. Sie kann dem Patienten auch eine Medikamentenstudie vorschlagen, die für ihn hilfreich sein könnte. Heute erfahren Patienten oft gar nicht von passenden Studien. Künftig können Studie und Patient zusammengebracht werden. Das ist wie ein Krebs-Tinder, wenn man so will. Dadurch werden wir auch die Zahl der Studien deutlich erhöhen. Wir machen in Deutschland zu wenige.
Bei der Erkennung von Hautkrebs ist die KI schon recht gut. Aber besteht nicht die Gefahr, dass Ärzte sich zu sehr darauf verlassen? Bei der Frage, welche Krebspatienten nur eine palliative Behandlung bekommen und welche noch Therapie, ist Künstliche Intelligenz bislang überfordert. Sie kann bestimmte Parameter wie den Schmerz der Patienten nicht richtig einkalkulieren.
Die Systeme werden immer besser werden. Mit KI bringe ich künftig jeden Onkologen in einem kleinen Krankenhaus näher an das Wissensniveau eines Spezialisten. Heute kommt ein Patient mit viel Glück zu einem Spezialisten, der eine gute Versorgung macht. Wenn er Pech hat, landet er bei einem Arzt, der diese Krebsart - fast jeder Krebs ist anders - noch nie behandelt hat. Gerade habe ich mich zum Beispiel mit dem Fall einer Patientin beschäftigt, bei der durch die Entfernung eines Tumors wahrscheinlich Tumorzellen verstreut wurden, deshalb ist der Krebs zurückgekommen.
Die KI hätte das verhindert?
Nicht unbedingt. Aber jetzt ist es passiert. Eine KI könnte auf Basis der elektronischen Patientenakte sagen: So würde das in der berühmten Krebsklinik Mount Sinai in New York behandelt oder in der Charité in Berlin. Das ist für den Patienten in einer Klinik auf dem Land keine irrelevante Frage.
Deshalb hat die Klinik im Sauerland aber vielleicht trotzdem nicht die finanziellen Mittel, den Patienten so zu behandeln wie das Dana Faber Institut. Kann das deutsche Gesundheitssystem das überhaupt leisten?
Wir haben das teuerste Gesundheitssystem in Europa. Aber wir sind bei der Lebenserwartung nur Mittelmaß. In 16 westeuropäischen Ländern liegen wir dort laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung bei Frauen sogar nur an Rang 14 und bei Männern an Rang 15. Unsere Behandlung ist teuer, aber nicht die beste. Das liegt neben großen Defiziten in der Prävention auch daran, dass sie nicht besonders effektiv ist.
Was meinen Sie?
Wir nutzen sehr, sehr teure Behandlungen oft bei Patienten, die davon realistischerweise keinen Gewinn haben. Da wird noch mal eine teure Antikörpertherapie gemacht bei einem Patienten, der davon nicht profitieren wird. Dagegen wird eine sinnvolle Therapie an anderer Stelle ausgelassen. KI kann uns helfen, viel genauer zu diagnostizieren und dann viel zielgenauer zu therapieren. Das hilft den Patienten und stellt unser Gesundheitssystem finanziell nachhaltig auf.
KI ist ja immer nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert wurde. US-Studien zeigen, dass Mediziner sich zum Teil von rassistischen Vorurteilen leiten lassen und weißen Menschen eine bessere medizinische Behandlung angedeihen lassen als anderen. Wenn die KI mit diesen Daten angelernt wird, könnte sie dieses Verhalten übernehmen und noch verstärken.
Sie haben recht: Zum Teil unterscheiden sich Behandlung zwischen arm und reich, zwischen Mann und Frau oder zwischen ethnischen Gruppen. KI kann uns aber gerade dabei helfen zu erkennen, wo das so ist. Ich kann zum Beispiel gezielt auswerten lassen, wie sich die Behandlung bei einem bestimmten Tumor in geografischer Hinsicht und in Abhängigkeit vom Einkommen unterscheidet. Und wenn wir das wissen, können wir KI darauf trainieren, sich von Vorurteilen nicht leiten zu lassen.
Wird der Arzt irgendwann überflüssig?
KI wird Ärzten helfen, aber sie nicht ersetzen. Das wissen auch die Mediziner – zumal die guten. Die meisten Ärzte erkennen die Möglichkeiten von KI als eine wünschenswerte Unterstützung ihrer Arbeit an. Auch für Wissenschaftler ist das einfach fantastisch. Heute können sie nur einen Bruchteil der Studien lesen, die jährlich herauskommen. Künftig führt die KI die Ergebnisse weltweit aller Studien zusammen und zieht Schlüsse daraus. Ich bekomme am Wochenende gelegentlich Fan-Anrufe von Unikliniken nach dem Motto: Was können wir tun, damit das vorankommt?
Wer der Nutzung der elektronischen Patientenakte nicht explizit widerspricht, bekommt sie. Und wenn man sie bekommt, kann man der Nutzung der Daten zu Forschungszwecken nicht widersprechen. Ist so ein Datentopf nicht ein Einfallstor für Hacker, gerade wenn auch Forschungseinrichtungen oder sogar Medizin-Start-ups darauf Zugriff haben?
Das ist nicht ganz richtig. Auch in Zukunft kann jeder Versicherte eine ePA für seine eigene Versorgung nutzen, aber der Ausleitung der Daten zu Forschungszwecken widersprechen. Hinzu kommt: Die an das Forschungsdatenzentrum (FDZ) ausgeleiteten Daten darf nicht jeder auswerten. Es wird zunächst vom FDZ die Forschungsfrage bewertet. Wenn diese wertvoll ist, können Institute oder Unternehmen die pseudonymisierten Daten nutzen. Das ist ein System des sogenannten Confidential Computing. Das heißt, die Daten befinden sich in einem geschützten digitalen Raum, der gegen einen Einbruch von außen sicher ist.
Auch wenn die Daten anonymisiert abgespeichert werden, können aus der Kombination von Postleitzahl, Geschlecht und Alter Rückschlüsse auf eine bestimmte Person gezogen werden. Müssen Bürger Sorge haben, dass ihre gesamte Krankheitsgeschichte einsehbar wird?
Nein. Der Datensatz selbst bleibt unzugänglich, verschlüsselt und verlässt nie die sichere Umgebung. Das heißt, die Forschungsinstitute können die Daten auswerten, aber sie kriegen nie den Datensatz selbst.
Gibt es für Sie eine rote Linie, die bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Nutzung von KI nicht überschritten werden darf?
Für mich ist klar: Die KI berät, auf Basis aller verfügbaren Daten. Aber sie hat nie das letzte Wort. Das haben der Arzt und der Patient.