Spahn: „Antikörper können Risikopatienten in der Frühphase helfen"
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht im Interview mit der BamS über ein neues Corona-Medikament
BILD am SONNTAG: Herr Minister, Sie haben am Anfang der Krise der gesagt, dass wir uns gegenseitig viel verzeihen müssen. Gerade wird der Ton in der Corona-Debatte rauer. Besorgt Sie das?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Kritik ist richtig. Sie ist das Lebenselixier einer Demokratie, auch in der Krise. Aber wir sollten aufpassen, dass 2021 nicht das Jahr der Schuldzuweisung wird. Über Fehler und Versäumnisse reden, ist wichtig. Aber ohne, dass es unerbittlich wird. Ohne dass es nur noch darum geht, Schuld auf andere abzuladen. Wir brauchen ein Jahr der Zusammenarbeit und der Zuversicht. Am Ende werden wir dieses Virus gemeinsam besiegt haben.
Deutschland ist besser durch die erste Welle gekommen als fast alle anderen Staaten. Warum ist uns das in der zweiten Welle gar nicht gelungen?
„Gar nicht“ stimmt ja nicht, gerade im internationalen Vergleich. Aber bei Pandemien ist die zweite Welle oft gefährlicher. Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir das Virus gut im Griff hätten. Die Wucht, mit der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer Mehrheit so nicht wahrhaben.
40.000 der 50.000 Corona-Toten sind in den letzten 12 Wochen gestorben. In Deutschland ist die Todesrate aktuell höher als in den USA und Brasilien. Warum läuft es so schief?
Wir haben dem Virus zu viel Raum gelassen. Wir hätten schon im Oktober bei geringeren Infektionen härtere Maßnahmen ergreifen müssen. Aber ob sich Corona ausbreitet, ist nicht nur eine Sache politischer Entscheidungen, sondern von uns allen. Es braucht entschlossenes staatliches Handeln, aber auch verantwortungsvolles Verhalten jedes Einzelnen. Wir sitzen alle in einem Boot.
Das Virus schlägt am brutalsten in den Pflegeheimen zu. Hat die Regierung bei deren Schutz versagt?
Im Frühjahr haben Heimbewohner ihre Situation als Gefängnis ohne Gitter beschrieben. Eine erneute Total-Isolation wollen wir vermeiden. Das heißt aber, dass selbst beim sorgfältigsten Hygienekonzept mit der umfassendsten Teststrategie ein Infektionsrisiko verbleibt.
Sie sind ernsthaft zufrieden mit der Situation?
Nein. Es schmerzt mich zutiefst. Aber ich weiß auch, was wir unternommen haben, um das zu verhindern. Das RKI hat im Frühjahr 2020 ein Infektionsschutzkonzept für Pflegeheime entwickelt. Die Heime haben Schutzausrüstung für mehr als eine Milliarde Euro erstattet bekommen. 90.000 Pakete mit FFP2-Masken wurden zusätzlich an die Heime verschickt. Die Kosten für die Coronatests inklusive der Personalkosten werden vom Bund übernommen. Ein durchschnittliches Pflegeheim bekommt bis zu 10.000 Euro pro Monat dafür. Davon kann man zur Unterstützung zum Beispiel drei Medizinstudenten einstellen. An vielen Stellen ist das passiert, an manchen aber auch nicht. Leider.
Sollen wir uns wirklich damit abfinden, dass weiter Besucher ohne Corona-Tests in Altenheime kommen?
Viele Länder haben angeordnet, dass ohne negativen Test niemand mehr ein Heim betreten soll. Mein Ministerium hat zudem in dieser Woche einen Vertrag mit dem Deutschen Roten Kreuz für mehr Schulungen für Corona-Tests unterschrieben. Mehr und frühere Tests, das wäre ohne Zweifel besser gewesen. Mir machen die Corona-Zahlen aus den Heimen jeden Tag zu schaffen.
Halten Sie es für richtig, Schulen mindestens zwei Monate zu schließen?
In der aktuellen Phase sehe ich dafür leider keine besseren Alternativen. Ich sehe die großen Belastungen für Familien, Kinder und das soziale Miteinander. Wenn ein Grundschüler zwei Monate nicht in die Schule kann, wirft das so einen kleinen Menschen zurück und kann bei manchen sogar Auswirkungen auf das gesamte Leben haben. Deshalb fällt die Entscheidung so schwer. Deshalb ist es aber auch so wichtig, dass wir uns jetzt weiter an die Regeln halten, um so den Schulbetrieb und die Kinderbetreuung schrittweise schnellstmöglich wieder starten zu können.
Gibt es irgendeine Studie, die Schulen als Verbreitungsort des Virus identifiziert?
In den Studien sehen wir, dass ab 13 Jahren die Infektionen vergleichbar mit Erwachsenen sind, mit 17/18 Jahren ist die Infektionsrate sogar überproportional hoch. Bei den kleineren Kindern ist es scheinbar unterdurchschnittlich, aber das Infektionsrisiko ist nicht bei Null.
Müssen Schüler und Eltern ausbaden, dass die Altenheime immer noch nicht richtig geschützt werden?
Es geht jetzt in dieser kritischen Phase der Pandemie darum, dass wir jeden Kontakt, den wir vermeiden können, auch vermeiden sollten.
Wäre es dann nicht sinnvoll, dass Kanzlerin und Bundesgesundheitsminister Vorbild sind und mal zwei Wochen aus dem Home Office regieren?
Ich mache mehr Home Office als sonst. Aber nicht ausschließlich. In einer Pandemie ist der Platz der Regierung, der Bundeskanzlerin und des zuständigen Ministers auf der Brücke.
Gibt es Fortschritte bei Medikamenten gegen Corona?
Ja! Ab nächster Woche werden die monoklonalen Antikörper in Deutschland als erstem Land in der EU eingesetzt. Zunächst in Uni-Kliniken. Der Bund hat 200.000 Dosen für 400 Millionen Euro eingekauft.
Sind das die Antikörper, die Trump bekommen hat?
Ja, sie wirken wie eine passive Impfung. Die Gabe dieser Antikörper kann Risikopatienten in der Frühphase helfen, dass ein schwerer Verlauft verhindert wird.
Welche Masken tragen Sie?
Mittlerweile fast immer FFP2-Masken.
Erst hieß es Masken schützen nicht, dann war die Alltagsmaske Pflicht, jetzt müssen es OP- oder FFP2-Masken sein. Warum hat die Regierung ihre Meinung in einem Jahr mehrfach geändert?
Weil die Wissenschaft ihre Einschätzung geändert hat. Und weil die bekannt gewordene Mutation vieles verändert hat. Daher müssen wir uns jetzt mit hochwertigeren Masken besser schützen.
Benennen Sie jetzt auch die AHA-Regel (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) um?
Verpflichtend sind medizinische Schutzmasken ja nur in bestimmten Bereichen. AHA ist gelernt. Diese Grundregeln gelten weiter, statt Alltagsmaske ist es nun der Alltag mit Maske.
Die Herstellungskosten für die FFP2-Masken liegen zwischen 50 und 70 Cent. Die Apotheken kassieren dafür gerne mal 6 Euro. Ist das Marktwirtschaft oder pure Abzocke?
Mehr akute Nachfrage führt zu kurzfristig höheren Preisen. Aber zur Marktwirtschaft gehört ja auch, dass man sich als Kunde Alternativen suchen kann. Wir senden zudem gerade 34,1 Millionen Bürgern, die als Risikogruppe gelten, Gutscheine für FFP2-Masken. So eine Aktion braucht es in dieser Lage nun auch für sozial Schwache.
Sie haben mehrfach versprochen: „In dieser Pandemie wird es keine Impfpflicht geben.“ Jetzt redet Markus Söder über eine solche für Pflegekräfte. Sind Sie sicher, dass Sie Ihr Versprechen halten können?
Ich setze auf Überzeugung und Aufklärung. Die Pflegekräfte achten sehr genau darauf, ob wir über sie oder mit ihnen reden. Ganz bestimmt werde ich beim Impfen nicht über sie hinweg entscheiden. In Westfalen-Lippe übrigens haben sich im Schnitt fast 80 % der Altenpflegekräfte impfen lassen.
Noch ein Versprechen von Ihnen: Im Sommer werden wir jedem Deutschen ein Impfangebot machen. Bleibt es dabei?
Wie ich immer betont habe, wenn die erwarteten Zulassungen weiterer Impfstoffe kommen, bleibt es dabei.
Derzeit liegen wir im internationalen Impf-Vergleich weit zurück. Was läuft da schief?
Ich halte von diesen täglichen Vergleichstabellen wenig. Sinnvoll vergleichen können wir in zwei oder drei Monaten. Wir haben mit den Pflegeheimen angefangen, das ist aufwändiger und dauert länger. Und wir legen 50 Prozent der Impfdosen für die zweite Impfung zurück. Das war eine weise Entscheidung, wie wir daran sehen, als uns Pfizer über Nacht mitgeteilt hat, dass sie die Liefermengen reduzieren.
Viele Bundesländer verschieben gerade den Start der Impfzentren.
Die Liefermengen sind alles in allem in dem erwarteten Rahmen. Wir haben damit geplant, dass es am Anfang zu wenig Impfstoff geben wird. Überall auf der Welt. Es wird gerade in weniger als 50 von 194 Ländern auf der Welt überhaupt schon geimpft.
Können die Über-80-Jährigen wirklich damit rechnen, noch in diesem Winter, also bis Ende März, geimpft zu werden?
Ja, das ist das Ziel. Stand heute wird jeder aus der ersten Gruppe bis Ende März ein Impfangebot erhalten. Der Impfstoff von Astra Zeneca soll im Februar zudem auch bei uns verfügbar sein.
Außenminister Maas will, dass Geimpfte ihre Grundrechte zurückbekommen. Sie auch?
Die Debatte kommt zur Unzeit. Bislang sind nur einige wenige geimpft. Und wir müssen erstmal sicher wissen, ob Geimpfte wirklich nicht infektiös sind.
Maas sagt, sie brauchen jedenfalls kein Beatmungsgerät.
Es geht aber nicht darum, ob man für sich selbst ein Beatmungsgerät braucht, sondern, ob man andere ansteckt. Es geht um Solidarität. Ich könnte auch meine Maske abnehmen und sagen: 'Ich hatte schon Corona, ich bin immun.' Nicht für eine Sekunde käme ich auf diese Idee. Wir haben ein Jahr lang solidarisch diese Pandemie durchgestanden. Jetzt können wir uns die Monate, bis jeder geimpft werden kann, auch noch alle an die Regeln halten.