Spahn: "Wir müssen derzeit beim Impfen noch stark priorisieren"

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Interview mit der WELT am Sonntag zum Thema Corona-Impfung

WELT am SONNTAG: Was sagt der 81-jähriger Opa seinen Enkeln. Wann wird er geimpft?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Bald. Leider ist es nicht möglich, alle zu Beginn zu impfen, weshalb ich um Geduld bitten muss.

In Israel fahren Senioren im Auto zum Impf-Drive-In. Warum geht es bei uns nicht?

Hinter Ihrer Frage stecken drei Dinge, die in der Debatte häufig vermischt werden. Einmal geht es um die Frage der Mengen. Haben wir genug Impfstoff bestellt? Da haben wir allein bei den beiden bereits zugelassenen Impfstoffen mehr als genügend, um allen Deutschen im Sommer 2021 ein Angebot zu machen. Da bin ich sehr zuversichtlich. Zumal jetzt, da die Zulassung eines dritten Impfstoffes kurz bevorsteht. Die zweite Frage ist die nach der Organisation des Impfens. Derzeit setzen die Länder noch viele mobile Teams ein, um in Pflegeeinrichtungen zu impfen. Diese Abläufen klappen  gut, sind aber naturgemäß aufwendig und langsamer. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es möglich ist, unseren hohen Aufklärungsstandards gerecht zu werden, wenn man wie in Israel Drive-in-Impfungen durchführt. Die dritte Frage ist die der Knappheit. Wie können wir die Abläufe beschleunigen? Da bin ich mir sicher, dass es in zwei bis drei Monaten möglich ist, in den einzelnen Impfzentren Tausende am Tag zu impfen. Aber derzeit müssen wir noch stark priorisieren.

In dieser Zeit sterben Tausende. Was hätten Sie besser machen können?

Die Bilder von leeren Impfzentren vermitteln einen falschen Eindruck. Gemeinsam mit den Ländern haben wir von Anfang an gesagt, dass wir die Impfstruktur bereits aufbauen, auch wenn der Impfstoff noch knapp ist. Damit die Strukturen stehen, wenn genug Impfstoff da ist.

Warum ist der Impfstoff knapp?

Nehmen wir als Beispiel Biontech und Pfizer. Die konnten bis Jahresende nur 50 Millionen Dosen vorproduzieren – für die ganze Welt! Davon hat die EU rund 20 Millionen bekommen, der Rest ging an Länder wie Amerika, Großbritannien und Israel. Hätte die EU härter verhandelt, wären es vielleicht ein paar hunderttausend Dosen mehr gewesen, was die aktuelle Situation aber auch nicht wesentlich verändert hätte. Es ist nun mal so, dass wir mit dem Impfen unter der Bedingung der Knappheit starten. Deshalb ja auch nur die Priorisierungsdebatte, die wir mit dem Ethikrat, der Ständigen Impfkommission, im Bundestag und natürlich auch in der breiten Öffentlichkeit geführt haben. Die Debatte lief hier so transparent ab, dass wir in fast allen anderen EU-Ländern das Vorbild sind.

Ich bin Halbdäne …

Deshalb habe ich „fast“ gesagt.

Ich bin für jede konstruktive Kritik offen. Lassen Sie uns gerne darüber reden, warum es z.B. in einzelnen Staaten wie Dänemark zu Beginn etwas besser läuft. Vielleicht können wir davon etwas lernen. Aber lassen Sie uns dabei auch nicht vergessen, dass viele europäische Staaten mit großem Respekt auf Deutschland schauen.

Beides stimmt.

Dann lassen Sie uns auch wahrnehmen, was gelingt. In Frankreich wird gefragt, warum kriegen die Deutschen das schon wieder hin – und wir nicht. Die gleiche Frage wird auch in Österreich gestellt, obwohl die Struktur des Gesundheitswesens dort ähnlich wie die deutsche ist. Und in den Niederlanden wurde erst diese Woche mit dem Impfen angefangen. Ich sage nicht, dass alles perfekt gelaufen ist. Es gibt Dinge, insbesondere bei der Informationspolitik, die man besser machen kann. Aber wir haben jetzt eine Struktur, die funktioniert und die man hochfahren kann.

Sind Sie für einen Untersuchungsausschuss, um aufzuklären, was in Berlin und Brüssel bei der Beschaffung der Impfstoffe schieflief?

Langsam. In der harschen Kritik werden zwei Aspekte vermischt. Der erste besteht darin, den europäischen Weg zu gehen. Das war eine Grundsatzentscheidung, die ich weiterhin für richtig halte. Frankreich und Deutschland hätten vermutlich auch alleine Verträge schließen können, da beide eine große Macht auf dem Pharmamarkt sind – aber weniger starke EU-Länder eben nicht. Aber hätte uns das wirklich langfristig viel weiter gebracht? Was nutzt es uns, wenn wir in manchen EU Staaten etwas schneller impfen können, aber andere so weiter im Lockdown bleiben müssen? Die deutsche Wirtschaft braucht offene Grenzen, den freien Güterverkehr, Absatzmärkte in Polen, Zulieferungen aus den Niederlanden und Zuwanderung aus Spanien. Wenn wir wirtschaftlich rasch auf die Beine kommen wollen, müssen wir also den europäischen Binnenmarkt impfen.

Und der zweite Aspekt?

Wie wir aus dieser Pandemie rauskommen, wird die Zusammenarbeit in Europa für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte prägen. Wenn die osteuropäischen und südeuropäischen Länder keinen Impfstoff bekommen hätten, wer wäre wohl eingesprungen? China und Russland. Gemeinsam sind wir Europäer von der Pandemie betroffen, gemeinsam werden wir sie bezwingen. Dass die Abläufe – in Brüssel, aber auch zwischen Bund und Ländern – besser funktionieren können, ist ein anderes Thema.

Können Sie da konkreter werden?

Wir reden über die größte Impfkampagne der Geschichte. 27 EU-Staaten beschaffen gemeinsam, 16 Bundesländer verimpfen. Das ist per se ein komplizierter Prozess. Aber würde es besser funktionieren, alle alleine entscheiden? Der Föderalismus hat sich doch bewährt in dieser Krise. Gemeinsam entscheiden und dann vor Ort umsetzen, ist fast immer besser als der Versuch, alles zentral zu steuern.

Fangen wir mit Europa an. Was dauert da so lange?

Nehmen wir einfach die Zulassungsentscheidung. Bei einer EMA-Entscheidung sind 27 nationale Behörden beteiligt. Der Vorteil besteht darin, dass die Expertise aus 27 Ländern einfließt und Dinge gesehen werden, die einzelne Länder gar nicht sehen können. Der Nachteil besteht darin, dass die Abstimmung mir 27 Beteiligten länger dauert. Aber dafür hat die Entscheidung eine höhere Akzeptanz. Die Überschriften der letzten Tage waren irreführend. Wir haben in Europa nicht zu wenig Impfstoffe, es besteht eine Anfangsknappheit. Aber wir werden über zwei Milliarden Impfstoffe für alle Europäer bekommen.

Bei den wenigen Impfungen, die es in Deutschland derzeit gibt, werden abends trotzdem Impfdosen weggeschmissen.

Ich habe diese Berichte auch gehört, natürlich wirft das Fragen auf.. Wir sollten natürlich versuchen, alle Dosen zu verimpfen. Es muss klar sein, dass im Grundsatz die Prioritäten gelten – die nicht ohne Grund so aufgestellt wurden. Und die eine hohe Akzeptanz haben. Trotzdem muss man in einer konkreten Situation auch pragmatisch sein. Alles ist besser, als etwas wegzuwerfen.

Ihr Koalitionspartner – Lars Klingbeil, aber auch Kevin Kühnert von der SPD – haben Sie scharf kritisiert.

Ich wundere mich schon, dass Parteien, die die Internationale auf dem Parteitag singen und Europa beschwören, in so einer Situation am liebsten den nationalen Alleingang gehen wollen. Ein interessantes Phänomen, nicht nur bei der SPD. Wobei ich die Grünen davon ausnehmen möchte.

Warum?

Die Grünen kritisieren in der Sache durchaus hart. Aber sie scheinen mir dabei an Lösungen interessiert zu sein. Sie machen ihren Job als Oppositionspartei, wir als Regierung machen unseren. Das verlangen die Bürger von uns.

Die Medien berichten, dass Ihr Verhältnis zur Kanzlerin zertrümmert ist.

Diese Berichte basieren weder auf Äußerungen von der Bundeskanzlerin noch von mir. Und wir müssen es wissen. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Gerade in dieser Pandemie. Wir vertrauen auch unter Stress aufeinander.

Wenn Ihr Verhältnis zur Bundeskanzlerin so prima ist, warum hat sie Sie dann diese Woche entmachtet? Jetzt dürfen nicht mehr Sie als der zuständige Minister das Impfen organisieren, sondern eine Arbeitsgruppe mit Vizekanzler Scholz?

Ihre Behauptungen sind falsch. Wir haben nach dem Kabinett mit den zuständigen Ministern darüber gesprochen, wie die Impfstoff-Produktion beschleunigt werden kann. Wir sind sehr zuversichtlich, dass Biontech bereits im Februar eine zusätzliche Produktion in Marburg starten kann. Daran hat die Bundesregierung und vor allem das Bundesministerium für Gesundheit großen Anteil.

Ein anderes Thema. Was soll künftig moderner und besser werden, wenn Armin Laschet CDU- Parteivorsitzender ist und Sie sein Stellvertreter?

Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland zukunftsfähig bleibt. Wir müssen uns auf die Zeit nach der Pandemie vorbereiten. Diese 2020er-Jahre werden anders werden als das letzte Jahrzehnt. Es stellen sich neue Fragen. Weltweit – was wird mit China, was ist mit Biden, was wird aus dem europäischen Zusammenhalt? Aber auch hier in Deutschland: Will in fünf Jahren noch jemand ein Auto aus Deutschland haben? Die Dinge, die Deutschland so stark machen, etwa der Maschinenbau, wird der in den 2020er-Jahren noch unseren Wohlstand generieren können? Schwierig. Und deshalb sind CureVac und Biontech plötzlich so wichtig, da gibt es regelrechte Zukunftscluster, die wir viel stärker pflegen müssen. Nicht durch Beteiligung an Einzelunternehmen, aber indem man eine Struktur schafft, eine Finanzierungsstruktur, eine Förderstruktur, die ...

Brauchen Unternehmer nicht vor allem Freiheit?

... auch Freiheit ...

Und wenig Bürokratie? Weniger Restriktionen? Weniger Fortschrittsskepsis?

Gehört alles dazu. Genau das hat Armin Laschet bereits in Nordrhein-Westfalen gemacht. In der Pandemie haben Impfstoffhersteller und Arzneimittelfirmen gesagt, dass sie nirgendwo auf der Welt so schnell Genehmigungen von den Behörden gekriegt haben wie in Deutschland. Und zwar nicht, weil diese auf irgendwas verzichtet haben, sondern weil Strukturen geschaffen wurden, die flexibler agieren, ohne Abstriche bei der Qualität vornehmen zu müssen. Das ist ein Standortfaktor für Deutschland.  CETA hat es übrigens bis heute nicht durch den Bundestag geschafft – ich weiß gar nicht, ob das alle mitbekommen haben.

Doch, doch.

Wenn wir nicht einmal mehr mit Kanada eine Freihandelszone schaffen können, mit wem denn dann? Wenn wir nicht mehr so abhängig von China sein wollen, werden wir unsere Handelspolitik offensiver gestalten müssen, als wir das im Moment machen. Es gibt so viele Themen, bei denen klar ist, die müssen wir in den 2020er-Jahren anders machen – und wir können es auch. Mit mehr Gestaltungswillen und weniger Verwaltungswillen. Um erfolgreich zu bleiben. Als Minister, der für Pflege und Gesundheit verantwortlich ist, weiß ich eines: Wenn wir in diesem immer älter werdenden Land unseren Lebensstandard halten wollen, den wir so liebgewonnen haben, dann sind wir stärker als jedes andere Land auf der Welt auf das Produktivitätswachstum angewiesen – abgesehen vielleicht von Japan. Weniger Leute werden mehr Leute versorgen müssen.

Pflegeroboter helfen uns natürlich weiter, aber die Leute werden doch trotzdem länger arbeiten müssen.

Die Rente mit 70 löst immer Schlagzeilen aus. Aber im Durchschnitt erhöht sich unsere Lebenserwartung jeden Tag um sechs Stunden, wir bleiben länger gesund. Dass man davon auch eine gewisse Zeit länger arbeiten werden muss, ist für mich offenkundig. Das sage ich seit 20 Jahren.

Was fehlt diesem Land, um einen Elon Musk hervorzubringen? Oder mehr Şahins? Muss Deutschland amerikanischer werden, wenn es um Innovationen geht?

In bestimmten Dingen, aber nicht in allen. Wir haben Stärken, die Amerika nicht hat. Wie auch die Pandemie gezeigt hat. Es bringt nichts, die beste Versorgung zu haben, wenn sie nur für wenige zu haben ist. Aber beim Unternehmertum, beim Gründertum, bei der Bereitschaft, dort ins Risiko zu gehen, da können wir tatsächlich von Amerika lernen. Europäisches Verantwortungsgefühl und amerikanischer Gründergeist, diese Mischung hat Potential.

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