Lauterbach: „Wir haben die Balance zwischen Medizin und Ökonomie verloren“

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach sprach mit DIE ZEIT über wichtige Reformen im Gesundheitswesen - darunter die Abschaffung der Fallpauschalen und eine stärkere Spezialisierung der Krankenhäuser.

DIE ZEIT: Herr Lauterbach, Sie haben letzte Woche unverblümt beschrieben, wie deutsche Krankenhäuser arbeiten: billig und an Masse orientiert, Aldi-Medizin quasi. Ist es so schlimm?

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Wir haben die Balance zwischen Medizin und Ökonomie verloren. Heute kann es sich kein Krankenhaus mehr leisten, allein die Medizin in den Mittelpunkt zu stellen. Jeder, der in einer Klinik arbeitet, muss immer auch sehr viele wirtschaftliche Aspekte beachten. Das kann nicht im Sinne der Patienten sein.

Sparsamkeit ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Es geht schließlich um unsere Krankenkassenbeiträge und Steuergelder.

Lauterbach: Das medizinisch Sinnvolle muss aber im Vordergrund stehen. Derzeit wird in Bereichen, die keine Gewinne abwerfen, wie in der Kinderheilkunde oder der Geburtshilfe, immer mehr Personal abgebaut. Die Folgen sind in diesen Tagen dramatisch sichtbar. Gleichzeitig machen die Kliniken immer mehr Operationen, die oft nicht nötig wären – wie an Knien oder Hüften –, nur weil sie Geld bringen. Der ökonomische Druck ist riesig. Auch die Spitzenmedizin leidet, weil sie oft unrentabel ist.

Als Hauptursache für die Misere machen Sie die Fallpauschalen verantwortlich, die Sie selbst mit eingeführt haben und nun wieder abschaffen wollen.

Deutschland hat die Fallpauschalen vor zwanzig Jahren eingeführt, um zu verhindern, dass die Patienten zu lange im Krankenhaus liegen. Das nämlich ist nicht nur teuer, sondern macht Patienten teilweise sogar kränker – besonders Ältere. Lange Liegezeiten machen immobil, steigern das Risiko, sich einen Keim einzufangen, begünstigen sogar bei älteren Risikopatienten den Beginn einer Demenz. Deshalb war ich damals auch für die Fallpauschalen. Aber wir haben es übertrieben.

Inwiefern?

Wir haben das System ohne Ausnahme umgesetzt. Kein anderes Land ist so weit gegangen, dass es den Kliniken sonst keine Einkommensmöglichkeit gibt. Ich hätte mir das anders gewünscht, denn auf diese Weise war die einfachste Möglichkeit, Gewinne zu machen, am Personal zu sparen. Deshalb haben die Kliniken über Jahrzehnte hinweg Pflegestellen abgebaut.

Wenn die Probleme von Anfang an offensichtlich waren, warum hat es 20 Jahre gedauert, bis etwas dagegen unternommen wurde? Ihre Partei, die SPD, hat fast durchgehend mitregiert.

Ich habe dafür gekämpft, dass die Pflege aus den Fallpauschalen herausgenommen wird. Das ist vor ein paar Jahren dann auch passiert.

Mehr aber auch nicht.

Der Widerstand gegen eine Reform der Fallpauschalen war immer groß. Schließlich ist das jetzige System bequem, und zwar vor allem für die Bundesländer und Krankenkassen. Nebenwirkungen spielen da keine Rolle.

Auch für private Konzerne scheint es sich zu lohnen. Während unzählige kommunale Kliniken rote Zahlen schreiben, machen private Klinikkonzerne Millionengewinne. Ärgert Sie das?

Sagen wir es so: Hohe Gewinne im Krankenhaus sind aus meiner Sicht verdächtig. Sie können mit guter Qualität eigentlich nicht erwirtschaftet werden.

Sie waren selbst mehr als zehn Jahre Aufsichtsrat bei einem börsennotierten Klinikkonzern.

Das hat mich auf jeden Fall nicht dümmer gemacht in der Einschätzung der Probleme. Die Reform wird nicht daran scheitern, dass der zuständige Fachminister das System nicht durchschaut.

Ist die bisherige Gesundheitspolitik an der Unwissenheit Ihrer Vorgänger gescheitert?

Nein, die Lobbygruppen im Gesundheitswesen sind einfach zu stark. Allein für Krankenhäuser geben gesetzliche und private Kassen jährlich circa 100 Milliarden Euro aus. Das ist mehr als viele Bundesressorts zur Verfügung haben. Unser Reformvorschlag wird von den meisten Fachleuten begrüßt, und auch in der Bevölkerung gibt es positive Reaktionen. Da könnte man denken, das wird ein Selbstläufer. Ganz falsch! Die Widerstände werden gigantisch sein – von einigen Ländern, von den vielen Krankenkassen und von vielen Krankenhäusern. Einige Länder und die meisten Krankenhäuser wollen sich keine großen Reformen wünschen, sondern nur mehr Geld vom Staat, und die Kassen haben oft kein Interesse an der Reform, weil sie damit kein Geld sparen. Deshalb geht es jetzt darum, Allianzen zu schmieden.

Das soll ja nicht gerade Ihre Stärke sein.

Ich war an vielen Reformen beteiligt. Es gab immer Allianzen.

Trotzdem haben Sie bei der Vorbereitung der Reform nur auf Wissenschaftler gesetzt, kein einziger Interessenvertreter durfte mitreden.

Hätte ich von Anfang an alle mitreden lassen, wäre es auf den übliche Lobbyistenkrieg hinausgelaufen. Am Ende hätte es nur ein Ergebnis gegeben: Der kleinste gemeinsame Nenner ist immer die Forderung nach mehr Geld vom Steuerzahler, keine echte Reform.

Jetzt soll das Geld lediglich umverteilt werden, der große Umbruch nichts kosten. So richtig nimmt Ihnen das keiner ab.

Bei Kindern und in der Geburtshilfe werden wir mehr Geld ausgeben, 420 Millionen pro Jahr, und für die Pflege ist es bereits mehr.

Fürchten Sie nicht, dass jetzt auch andere mehr Geld fordern werden?

Lauterbach: Die Angst der Politik vor dem Protest der Lobbygruppen muss beendet werden. Wir brauchen eine echte große Reform.

Also Karl gegen den Rest der Welt?

Nein. Es geht nicht um mich. Ein Patient muss sich darauf verlassen können, dass er nur so behandelt wird, wie es medizinisch notwendig ist. Pflegekräfte und Ärzte wollen nicht unnötige Diagnosen stellen und behandeln müssen, damit die Klinik genug verdient. Und Spitzenmedizin darf nicht am Geld scheitern.

Und darüber kann eine wissenschaftliche Kommission am besten urteilen?

Sie hat mehr Unabhängigkeit. Die Mitglieder sind zum Teil Klinikleiter oder Ärzte aus der Praxis. Die Pflegewissenschaft ist mit dabei. In der Politik wird die Beratung durch die Wissenschaft hierzulande immer noch zu wenig geschätzt. Dabei ist die Lücke zwischen dem, was wissenschaftlich gesichert ist, und dem, was wir politisch machen, riesig – egal ob in der Medizin oder beim Klimawandel. Stattdessen stehen Wissenschaftler, die sich in die Politik einmischen, immer im Verdacht, weltfremd zu sein.

Sie sprechen aus eigener Erfahrung?

Das ist mein Lebensthema. Ich sitze seit 17 Jahren im Bundestag, habe seit 1998 an allen Reformen des Gesundheitswesens politisch mitgearbeitet. In Deutschland gibt es das Vorurteil, Wissenschaftler könnten keine Politik. Dabei brauchen wir mehr Wissenschaftler in der Politik.

Was wird die nun geplante Reform konkret für die Patienten ändern?

Sie werden mehr die Behandlungen bekommen, die sie wirklich brauchen, und weniger jene, mit denen die Kliniken nur Geld verdienen. Die Zahl der unnötigen Operationen, auch am Lebensende, wird zurückgehen. Man wird weniger Operationen wiederholen müssen, weil der Eingriff dann nicht mehr zuerst in einer Klinik erfolgt ist, die nicht optimal geeignet war und zu wenig Erfahrung hatte.

Sie setzen auf eine stärkere Spezialisierung der Krankenhäuser. Wie wollen Sie die kleinen Kliniken dazu bewegen, keine komplizierten Operationen mehr anzubieten?

Mit zum Teil unnötigen oder nicht optimal durchgeführten OPs ließ sich Geld machen, was die Kliniken zum Überleben brauchten. Künftig wollen wir die kleinen Kliniken so bezahlen, dass ihre grundlegenden Kosten gedeckt sind und sie nur noch Pauschalen für Operationen bekommen, die sie wirklich beherrschen und die nötig sind. Die Sterblichkeit nach einer Krebsoperation ist in Deutschland um ein Viertel niedriger, wenn man in eine Spezialklinik geht.

Werden Kliniken schließen müssen?

Ja.

Wie viele?

Das kann ich nicht sagen. Klar ist jedoch, dass viele Kliniken so oder so schließen würden. Ohne die Reform wird sich ein Todeskampf gerade kleiner Kliniken entwickeln, und zwar mit fatalen Folgen für die Patienten.

Was heißt das?

Ein Krankenhaus, das gegen den finanziellen Untergang kämpft, muss sparen: bei Ärzten, am Pflegepersonal, beim Material. Dennoch wird es fast jeden Patienten aufnehmen. Viele Ärzte würden nicht in so ein Krankenhaus gehen. Dabei werden viele dieser kleinen Krankenhäuser für die lokale Versorgung dringend gebraucht. Sie brauchen eine Bezahlung für die Basisversorgung vor Ort und für medizinische Notfälle.

In Zukunft müssten Patienten für speziellere Eingriffe aber weitere Wege in Kauf nehmen.

Das ist kein echtes Problem. Deutschland hat die höchste Krankenhausdichte in ganz Europa. Und wenn man Patienten fragt, ob sie einen kürzeren Weg von 20 Kilometern bevorzugen oder eine 25 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit zu sterben, ist die Entscheidung klar.

Das größte Problem, den Mangel an Pflegekräften, löst die Reform aber nicht.

Zum Teil schon, denn wenn der wirtschaftliche Druck in den Kliniken nachlässt, wird auch die Pflege wieder attraktiver werden. Wir bilden ja nicht zu wenige Pflegekräfte aus, hier liegen wir 20 Prozent über den Zahlen von 2018. Unser Problem ist, dass zu viele Pflegekräfte später frustriert aufgeben.

Nach ihren Vorschlägen soll ein Teil der kleinen Krankenhäuser ganz von Pflegekräften geleitet werden. Gibt es da wirklich keine Ärzte mehr?

Ja, das sind wenige Krankenhäuser, die keine Operationen mehr machen, sondern Patienten nur überwachen, wie eine ausgelagerte Station. In Ländern wie den USA arbeitet man längst mit solchen Außenstellen.

In Deutschland schwer vorstellbar.

 In einer normalen Klinik werden Stationen ja auch oft nur von einer Pflegekraft überwacht. Es muss nur sichergestellt werden, dass im Notfall schnell ein Arzt zur Stelle ist.

Muss die Pflege im Krankenhaus insgesamt aufgewertet werden?

Dringend. In den Vereinigten Staaten dürfen besonders gut ausgebildete Pflegekräfte vieles machen, was bei uns den Hausärzten vorbehalten ist: Medikamente verschreiben, Behandlungen anordnen. Deshalb ist der Beruf dort sehr attraktiv. Außerdem verdienen Pflegekräfte sehr gut. An der Klinik der Harvard-Universität bekommen sie gleich nach der Ausbildung im Durchschnitt 75.000 Dollar Jahresgehalt. Ich wünsche mir, dass wir hier künftig Pflegekräfte haben, die stärker auch wie Ärzte arbeiten.

Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. Warum herrscht hierzulande noch immer so eine starke Hierarchie zwischen Ärzten und Pflegepersonal?

Ich kann Ihnen auf jede zweite Frage die gleiche Antwort geben: Es liegt meist auch am Lobbyismus. In diesem Fall an den Ärztevertretern, die jede Übertragung von Kompetenzen ans Pflegepersonal abwehren. Wobei einzelne Ärzte in den Kliniken, so meine Erfahrung, damit viel weniger Probleme haben als ihre offiziellen Vertreter.

Die Krankenhäuser sind nicht der einzige Ort, wo das Interesse der Patienten hintenansteht. Derzeit werden Fiebersäfte für Kinder oder einfachste Medikamente gehandelt wie Gold, weil sie nicht lieferbar sind. Was läuft da schief?

Heute kommt bei der Medikamentenversorgung nur der allerbilligste Anbieter zum Zug – und wenn der ausfällt, gibt es Probleme. Wir arbeiten deshalb an einem Gesetz, dass sicherstellt, dass Medikamente in mehreren Weltregionen gleichzeitig beschafft werden müssen, damit wir nicht mehr von ein oder zwei Fabriken weltweit abhängig sind. Künftig soll zudem nicht mehr allein der billigste Anbieter den Zuschlag bekommen, sondern diejenigen, die mehr Versorgungssicherheit anbieten. Wir müssen die Discounter-Medizin beenden – das gilt für das Krankenhaus, bei der Arzneimittelversorgung und übrigens auch im niedergelassenen Bereich, wo Arztpraxen zunehmend von Investoren übernommen werden.

Wie groß ist diese Gefahr?

Bislang beobachten wir, dass internationale Firmen zum Beispiel Praxen in der Augenheilkunde, von Zahnärzten und in der Dialyse übernehmen, um damit Geld zu machen. Das müssen wir dringend unterbinden. Wir wollen keine Investoren-Medizin. Medizin ist eine Fürsorge auf Grundlage der Wissenschaft. Keine Ware des Kapitalismus. Wir haben in allen Bereichen zu viel Ökonomie und zu wenig Medizin, ob in den Krankenhäusern, durch die Fallpauschalen, bei den Medikamenten, wo es ebenfalls heißt: Hauptsache, billig, und jetzt auch bei den Arztpraxen, wo nun billige Massenabfertigung droht. Das muss aufhören. Wir sind zu weit gegangen.

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