Spahn und von der Leyen: Ein neuer Weg Europas im Umgang mit Daten
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und die designierte Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen machen sich in einem gemeinsamen Gastbeitrag in der FAZ für einen neuen Weg Europas bei der Digitalisierung stark.
Wir leben im Zeitalter der Daten. Daten und unser Umgang damit bestimmen zunehmend, wie wir leben, arbeiten, kommunizieren. Die zentrale Frage ist: Schaffen wir es, den technischen Wandel souverän und aktiv zu gestalten? Können wir wirtschaftlich an der Weltspitze bleiben? Gelingt es uns, tödliche Krankheiten zu besiegen? Und zugleich unsere Privatsphäre zu erhalten? Der Umgang mit Daten wird dafür entscheidend sein.
Bislang dominieren beim Umgang mit Daten zwei Modelle die Welt. China hat Daten und ihren Nutzen vollkommen verstaatlicht. Was erhoben, ausgewertet und gespeichert wird, entscheiden nicht die Bürger, sondern der Apparat. Das mag zwar Forschung und Entwicklung vorantreiben, dasselbe gilt jedoch für einen totalen Überwachungsstaat. Das Gesellschaftsmodell und der Umgang mit Daten hängen eng zusammen: Der Staat erhebt in China einen Allmachtsanspruch, weit über das Digitale hinaus. Was zählt, ist das Kollektiv, das Individuum hat sich unterzuordnen.
Der Umgang der USA mit Daten hingegen ist eher marktgetrieben: Der Staat hält sich weitgehend raus. Mit Daten wird in erster Linie Geld verdient, viel Geld. Wie sich die Gesellschaft entwickelt, hängt ganz wesentlich von einigen wenigen Großunternehmen und ihren Geschäftsmodellen ab, die auf Sammeln und Auswerten von Daten basieren. Die Mächtigen im Silicon Valley entscheiden weitgehend autonom, die einzelnen Bürgerinnen und Bürger stehen diesen Marktinteressen oft schutz- und hilflos gegenüber.
Sowohl der chinesische als auch der amerikanische Weg sind mit unseren europäischen Idealen nicht vereinbar. Wer Daten völlig der Kontrolle des Staates unterwirft, legt seinen Bürgerinnen und Bürgern digitale Ketten an. Wer Daten rein nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen betrachtet, ignoriert, dass unsere persönlichen Daten zu allererst unser persönliches Eigentum sind.
Beides kann kein Weg für Europa sein. Doch eine klare europäische Idee fehlt bislang. Deswegen laufen wir Europäer Gefahr, zerrieben zu werden im „global Tech war“, dem Wettstreit um die globale Technologievorherrschaft. Für Europas Zukunft ist die Frage, wie wir mit Daten umgehen, viel zu wichtig, um den täglich fortschreitenden Wandel nur zu erdulden. Wir müssen ihn zupackend gestalten.
Dafür brauchen wir ein klares Ziel vor Augen. Wir müssen uns in Europa zuerst die Frage stellen: In was für einer digitalen Gesellschaft wollen wir leben? Können wir das große europäische Ideal, eine Gemeinschaft von freien und selbstbestimmten Bürgern zu sein, ins digitale Zeitalter übertragen?
Die Antwort ist ja. Dafür muss Europa einen eigenen Weg zwischen den USA und China wählen, der Staat und Markt kombiniert. Der europäische Umgang mit Daten muss auf Ausgleich bedacht sein: Wir müssen lernen, das große Potenzial der Datenschätze besser auszuschöpfen, aber zum Wohle der Gesellschaft und der Gemeinschaft. Insbesondere personalisierte Daten müssen vor Missbrauch geschützt sein. Das muss der Staat garantieren. Dazu braucht er klar definierte Prozesse, Auflagen und Regeln. Diese Qualitätssicherung gilt es zu entwickeln.
Wir wollen einen verantwortlichen Umgang mit Daten, der sich am Gemeinwohl orientiert. Das entspricht unseren europäischen Idealen und steht in guter aufklärerischer Tradition unseres Kontinents. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb um die Nutzung von Daten sollte davon getrieben sein, welcher gesellschaftliche Mehrwert daraus entsteht. Es wäre das Modell einer Art der Sozialen Marktwirtschaft für den europäischen Datenraum: Der Staat sorgt für die Rahmenbedingungen, garantiert Sicherheit und sanktioniert Missbrauch – nach klaren, transparenten Regeln, die der demokratischen Kontrolle der Bürger unterliegen. Und es gibt erste erfolgreiche Beispiele wie das geschehen kann.
Im deutschen Gesundheitssystem streben wir eine staatliche Sammlung von Daten an, für die die Bürgerinnen und Bürger ihre anonymisierten Daten freiwillig zur Verfügung stellen können. Von dieser Datenbank soll unter kontrollierten Bedingungen die Forschung Zugang haben. Die Analyse großer Datenmengen könnte neue, erfolgreiche Vorsorge, Behandlungsmethoden, Medikamente oder Diagnose-Verfahren vorantreiben. Nützen diese den Menschen, lässt sich damit dann auch Geld verdienen.
Vor allem für den Kampf gegen Volkskrankheiten wie Demenz und Krebs bietet das große Chancen. Mit guten Datensätzen und technischen Mitteln wie Algorithmen, die in der Lage sind, besonders große Datenmengen zu verarbeiten, lassen sich Krankheits- und Behandlungsverläufe exakt analysieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dadurch auf neue Behandlungs- oder Heilmöglichkeiten stößt, ist viel größer, als wenn Forscher und Ärzte nur manuell und vereinzelt Krankheiten untersuchen.
Idealerweise können künftig europäische Forscherinnen und Forscher in Zukunft auf Daten zu allen Krebs- und Demenzarten aus ganz Europa zugreifen. Wir sollten aber nicht warten, bis diese große Lösung steht und jedes einzelne Detail durchdacht und geregelt ist. Dafür ist die globale Entwicklung viel zu rasant. Es ist richtig, bereits jetzt zum Beispiel mit einzelnen Krebsarten und einzelnen Ländern zu beginnen.
Das ist das Prinzip, nach dem wir als Europäer vorgehen sollten: Wir müssen handeln, notfalls dezentral und ohne einen bis ins letzte Detail fertigen Plan. Das können wir, weil wir einen klaren europäischen Weg vor Augen haben. Weil wir wissen, welche Ziele und Rahmenbedingungen uns in Europa am wichtigsten sind – andere als in China und den USA. Wir verfolgen eine klare Vision, die Innovation und Verantwortung ausbalanciert. Europa braucht jetzt einige, die mit Mut vorangehen, Erfahrungen sammeln, auch Fehler einkalkulieren und für andere den Weg ebnen. Das große Ziel ist ein lohnendes: Ein moderner und hochproduktiver Umgang mit Daten nach unseren ureigenen europäischen Idealen.