Spahn: „Nur wenn wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, können wir die Patientenversorgung besser machen“
Patienten sollen so schnell wie möglich von Verbesserungen wie Videosprechstunden, digitalen Rezepten und elektronischen Patientenakten profitieren, darüber sprach Jens Spahn mit Cordula Tutt und Max Haerder in der WirtschaftsWoche vom 12. April 2019.
WirtschaftsWoche: Herr Spahn, die elektronische Gesundheitskarte sollte 2006 starten. Dreizehn Jahre später haben wir immer noch Versichertenkarten, die kaum etwas können. Wie wollen ausgerechnet Sie es nun bis 2021 schaffen, eine vollwertige elektronische Gesundheitsakte bereitzustellen?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Indem wir mit Hochdruck daran arbeiten, mutig die Zukunft gestalten und dafür auch Konflikte eingehen. Denn nur wenn wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, können wir die Patientenversorgung besser machen.
Was können Versicherte am 1. Januar 2021 erwarten? Wie sieht digitale Gesundheitswelt dann aus?
Die digitale Gesundheitswelt, wie ich sie mir vorstelle, beinhaltet dann schon Videosprechstunden, das digitale Rezept sowie die elektronische Patientenakte.. Mit jedem Arztbesuch kommen dann neue Behandlungsdaten dazu. 2021 wird das noch nicht perfekt sein, aber sehr brauchbar. Daran werde ich mich messen lassen.
Damit Sie Ihr Versprechen halten, haben Sie kurzerhand die Organisation verstaatlicht, in der bisher die Profis im Gesundheitswesen selbst die Standards für die digitale Welt setzen sollten. Was wird bei der Gematik nun anders?
Wir haben die Organisation nicht verstaatlicht. Wir ändern nur die Mehrheitsverhältnisse. Wenn die Gematik 15 Jahre lang wenig bis nichts entscheidet, halte ich das für eine überfällige Reaktion. Ab 1. Mai können wir hier Tempo machen.
Sie klingen ganz schön gefrustet.
Bisher lief es doch so: Die Gematik wollte eine Lösung für alle entwickeln, war aber technologisch stets zehn Jahre hinterher. Jetzt gilt: Wir setzen künftig nur noch den Rahmen, also etwa für Datenschutz und -sicherheit. Dann aber setzt der Wettbewerb ein. Krankenkassen schaffen dann selbst interessante Angebote für ihre Versicherten.
Keine Angst, dass das Ihr digitaler BER wird?
Am Seitenrand zuschauen und Nichtstun, um dann auf andere zu zeigen, ist nicht mein Selbstverständnis von Politik. Verantwortung übernehmen bedeutet auch Risiko in Kauf zu nehmen. Dazu bin ich gerne bereit.
Wenn es aber klappt – wo steht Deutschland dann im internationalen Vergleich?
Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Wir versuchen zumindest den Anschluss an die Weltspitze zu finden. Das wird schwer genug. Große Konzerne investieren Milliarden in China und den USA, um die Gesundheitsbranche mit Big Data zu revolutionieren.
Und was macht Europa?
Bei der Sicherheit von sensiblen Gesundheitsdaten werden wir ganz vorne stehen. Bei den Anwendungen haben wir sicher noch Nachholbedarf. Aber auch unser Markt ist attraktiv.
Und dann wandern Gesundheits-Start-ups nicht mehr in die USA ab? Bisher dauert es doch ewig, bis Gründer wissen, ob ihr Produkt von den Kassen bezahlt wird.
Neben der Diskussion der Patientenakte für mich ein ganz zentraler Punkt: Wir können und müssen da schneller werden. Nichts ist schlimmer für ein junges Unternehmen, das noch Geld einsammelt, als dass man ihm sagt: In drei Jahren hast Du Gewissheit, ob das was wird bei uns. Dann wandern sie tatsächlich in die USA ab und damit geht auch den Versicherten hier in Deutschland Innovation verloren. Da werden wir die Rahmenbedingungen anpassen.
Sie haben mal gesagt, Datenschutz sei für Gesunde. Kranke dagegen profitierten, wenn ihre Daten für Forschungszwecke genutzt würden.
Ich bleibe dabei: Es sollte viel leichter werden, die eigenen Daten anonymisiert bereitzustellen.
Werden wir unsere Daten auch verkaufen können?
Darüber sollten wir zumindest diskutieren. Bei Facebook läuft das doch heute schon – nur unkontrolliert.
Wer sich fit hält und Daten dazu sammelt, dem könnte die Kasse künftig sagen: Du bekommst einen Bonus. Ist das gut?
Wir dürfen es nicht übertreiben. Wenn jemand dreimal die Woche laufen geht oder regelmäßig die Zähne kontrollieren lässt, kann ich mir noch Boni vorstellen. Aber am eigenen Verhalten darf kein Preisschild kleben. Das wäre dann nicht mehr meine Vorstellung von Solidargemeinschaft. Sondern ein Albtraum.
Krankenkassen könnten ihren Versicherten auch nahelegen, ihren Lebenswandel zu ändern...
Das wäre theoretisch zumindest möglich. Die Rentenversicherung kann heute bereits an ihren Daten erkennen, wer vier Jahre später aller Wahrscheinlichkeit nach erwerbsunfähig wird. Dann ändern sich nämlich bestimmte Werte, wegen Krankschreibungen oder geringerer Einzahlung. Da wäre es doch für alle am besten, schon dann einzugreifen und zu verhindern, dass jemand erwerbsunfähig wird. Das darf man aber heute nicht. Bei Kassen ist das genauso: Die wissen weniger über ihre Versicherten als Google, das die ganzen Suchverläufe scannt.
Warum stehen wir bei der Digitalisierung eigentlich insgesamt so mittelmäßig da?
Bei Patienten ist der Wunsch nach neuen Lösungen größer als bei Ärzten. Die Menschen werden bald mit einem Handy fast alle Körperflüssigkeiten auswerten können wie im Labor. Eine App kann Ihnen dann sagen, was Ihnen bisher nur ein Arzt sagen konnte. Das verändert den Beruf gewaltig. Darin könnten Mediziner eine Chance sehen, ihre Patienten mit Hilfe von Technik genauer zu behandeln. Viele sehen das aber als Bedrohung.
Jetzt wollen Sie mit einem „Health Innovation Hub“, einem Spähtrupp staatlich bezahlter Digitalexperten, digitale Erfindungen für die Allgemeinheit nutzbar machen. Warum jetzt Formel 1, obwohl nicht mal die Autobahn funktioniert?
Im Hub arbeiten Pioniere. Leute, die merken, was in der digitalen Avantgarde passiert. Diese Ideen sollen ins Ministerium gelangen und deshalb ist der Hub auch direkt an unsere Digital-Abteilung angegliedert. Wir wollen schneller mitbekommen, was sich verändert. Und wir wollen schneller begreifen, wie wir diese Veränderungen für die Patienten nutzen können. Dabei können auch fachfremde Ideen eine Rolle spielen. Das gab´s auch früher schon. Die OP-Checklisten zum Beispiel, die Ärzte durchgehen, stammen ursprünglich aus der Luftfahrt.
Was versprechen Sie sich noch?
Der Innovation Hub soll Digitalisierung konkret machen. Das Team soll Möglichkeiten finden, digitale Anwendungen schnell in die Versorgung zu bringen. Etwa eine Gesundheits-App: Wer sorgt für die Zulassung? Wird sie von den Krankenkassen akzeptiert? Mit diesen Fragen sind wir wieder bei den Start-ups. Die wollen wissen, ob sich ihre App lohnt. Und ihre Kunden wollen wissen, ob die App bezahlt wird.
Digitale Zukunft ist immer gut - für die Patienten und den Minister. Machen Sie hier nicht vor allem Image-Prophylaxe in eigener Sache?
Digitale Zukunft ist bessere Versorgung. Und das ist mein Anspruch bei jedem Gesetz. Der Staat muss funktionieren. Erst recht in einem so wichtigen Bereich wie der Gesundheit. Das sicher zu stellen, ist meine Aufgabe. Zum Wohle von Patienten und Angehörigen. Wir machen Gesetze, damit es mehr Pflegekräfte gibt, Gesetze, die Patienten schneller einen Arzttermin verschaffen sollen. Wir haben die Kassenbeiträge für Selbstständige gesenkt und dafür gesorgt, dass Arbeitnehmer hier wieder halbe-halbe mit ihrem Arbeitgeber machen. Wenn ich ein Problem sehe, will ich es lösen.
Täuscht der Eindruck, dass Sie fürchten, nicht vier Jahre Zeit zu haben, sondern eher zwei?
Steht etwa meine Entlassung an? (lacht)
Wir dachten eher ans Ende der großen Koalition...
Solche Spekulationen kümmern mich nicht.
Sie genießen als Gesundheitsminister die gute Konjunktur, treiben die Kosten. Wie realistisch ist da das Versprechen der Regierung, die Quote der Sozialabgaben unter 40 Prozent der Löhne zu halten?
Als Gesundheitsminister bin ich der größte Fan jeder Wirtschaftspolitik, die das Wachstum fördert. Nur so werden wir Innovationen und gute Leistungen im Gesundheitswesen bezahlen können.
Das war nicht die Antwort auf unsere Frage.
Nur Geduld. Wer will, dass wir die Pflege oder die Rente in 20 Jahren noch bezahlen können, der muss daran arbeiten, dass wir Digitalweltmeister werden. Das Ziel der 40 Prozent ist deshalb wichtig und richtig. Nicht weil ab 40,1 Prozent die Welt zusammenbricht, sondern weil dann die Hemmungen fallen, die Kosten zu begrenzen. Also: Das Ziel gilt.
Aber für wie lange?
Wenn es nach mir ginge, würden bei nicht wenigen Krankenkassen die Beiträge erstmal sinken. Dort können sehr hohe Rücklagen abgebaut werden. Und in der Pflege bleiben die Beitragssätze bis 2022 stabil. Das reicht mir aber nicht.
Was müsste dann getan werden?
In der Pflege müssen wir mittelfristig über die Finanzierung reden. Seit 15 Jahren hatten wir keine grundsätzlichen Debatten mehr über die sozialen Sicherungssysteme. Wir müssen uns aber überlegen, wie wir die Pflege künftig finanzieren, ob wir auch stärkere Privatvorsorge brauchen oder mehr Umverteilung unter Beitragszahlern.
Und ihre Antwort lautet?
Dass ich nicht mit einer fertigen Antwort in eine Debatte gehe.
Warum arbeiten Sie eigentlich so gut mit Karl Lauterbach zusammen? Der Fraktionsvize der SPD steht links, Sie geben sich marktwirtschaftlich.
Wir kennen uns sehr lange und haben gute Gründe, einander zu vertrauen. Wir gehen verlässlich miteinander um. Nur so kann man trotz häufig unterschiedlicher Auffassungen Kompromisse finden – und das ist für mich ein Wert an sich in der Politik.
Und deshalb setzen Sie Dinge um wie der beste SPD-Minister? Sie waren früher mal gegen den gleich hohen Beitragsanteil für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Gesundheit.
Die Parität war eines der wichtigsten Gründe für die SPD, um in diese Koalition zu gehen. Das musste ich akzeptieren. Trotzdem ist nicht alles, was sozialdemokratisch klingt, nur ein SPD-Thema. Nehmen Sie die Pflege. Da gibt es Gemeinsamkeiten: Auch ein Christdemokrat möchte Pflegekräfte, die gut und anständig bezahlt werden.