„Für eine gute Versorgung braucht es auch die Patientenperspektive“
Die Initiative genomDE zielt darauf ab, allen Patientinnen und Patienten die Vorteile der Genommedizin langfristig zugänglich zu machen. Im Interview erklären die beteiligten Patientenvertreterinnen Andrea Hahne vom Haus der Krebs-Selbsthilfe und Dr. Christine Mundlos von der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, warum die Einbindung der Betroffenen so wichtig ist und was sie sich von der Initiative erhoffen.
Frau Mundlos, warum ist die Genommedizin so wichtig für Betroffene von Seltenen Erkrankungen?
Dr. Christine Mundlos: Man geht davon aus, dass circa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen eine genetische Ursache haben. Die Diagnosestellung ist in den meisten Fällen allerdings eine große Hürde. Die Patientinnen und Patienten warten durchschnittlich sieben Jahre auf die Diagnose, bei manchen dauert es noch viel länger. Die Genomische Diagnostik, die eine umfassende Analyse aller Veränderungen im Erbmaterial ermöglicht, kann diesen Prozess beschleunigen. Wir erhoffen uns auch, dass damit bei mehr Patientinnen und Patienten eine Diagnose gestellt wird.
Frau Hahne, wie sieht es bei den Krebserkrankungen aus?
Andrea Hahne: Auch bei Krebserkrankungen ist eine gesicherte Diagnose essentiell. Neben der reinen genomischen Diagnostik, geht es auch darum, wie diese Erkenntnisse zum Wohle der Patientinnen und Patienten genutzt werden können. Idealerweise kann die Genommedizin bereits das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen ermitteln. Durch gezielte Präventionsmaßnahmen kann der Krebs frühzeitig erkannt oder potentiell verhindert werden. Im Falle einer Krebserkrankung ist es ebenso wesentlich, die genetischen Merkmale des Tumors zu analysieren. Dies ermöglicht zunehmend individualisierte Therapieansätze, um genau für den jeweiligen Tumortyp wirksame Behandlungen zu entwickeln und einzusetzen.
Warum ist die Einbindung der Patientinnen und Patienten in diesem Prozess so wichtig?
Mundlos: Neben der reinen Diagnostik beschäftigt uns die Frage, wie es den Betroffenen im Alltag mit ihrer Erkrankung ergeht. Wie können wir die Patientinnen und Patienten auch dort begleiten? Die Sicht des medizinischen Personals ist in der Regel auf therapeutische Aspekte beschränkt. Die Lebenswirklichkeit der einzelnen Erkrankten geht allerdings mit vielen unterschiedlichen Hürden einher und ist damit weitaus facettenreicher. Diese Erfahrungen mit anderen zu teilen, ist ein wichtiges Anliegen der Patientenvertretung. Es gibt ganz großartige Ärztinnen und Ärzte, die sich um die Betroffenen von Seltenen Erkrankungen kümmern, aber für eine gute Versorgung braucht es auch die Patientenperspektive.
Hahne: Es ist wichtig, das gelebte Erfahrungswissen der Betroffenen einzubinden und gemeinsam Konzepte zu entwickeln, die tatsächlich auf die Zielgruppe angepasst sind und nicht an der Realität vorbeilaufen. Krebserkrankungen haben weitereichende Auswirkungen auf das Leben der erkrankten Personen und deren Familienmitglieder. Diese besondere Perspektive ergänzt das ärztlich-medizinische Fachwissen sinnvoll und ist elementar für die Konzeption von Forschung und Versorgung.
Die Untersuchung des Genoms erfolgt deshalb auch nur nach Zustimmung der Betroffenen. Wie schätzen Sie die Akzeptanz ein?
Mundlos: In der Hoffnung, endlich eine Diagnose zu bekommen, sind die Patientinnen und Patienten sehr offen für eine genetische Diagnostik. Da ist das Thema Datenschutz und Datensicherheit erst mal zweitrangig. Auch der Datennutzung für Forschungszwecke begegnen sie eher positiv. Einfach, weil im Bereich der Seltenen Erkrankungen noch nicht genügend geforscht wird. Allerdings erwarten die Betroffenen dann eine gute Aufklärung zu Sinn und Zweck der Forschungsprojekte, die Einhaltung des Datenschutzes sowie Informationen zum Projektverlauf und Transparenz bei den Ergebnissen. Es ist wichtig, dafür entsprechende Ressourcen vorzusehen.
Hahne: In der Regel begegnet man auch in der Onkologie einer großen Offenheit. Wenn Menschen die Diagnose einer erblichen Erkrankung erhalten, betrifft das die ganze Familie. Weitere Familienmitglieder können ebenfalls Träger einer Risikomutation sein, zukünftig erkranken oder die Veranlagung an ihre Kinder vererben. Auch genetische Analysen am Tumorgewebe können erbliche Risikomutationen erfassen. Es ist folglich wichtig, über die Tragweite und die Chancen der genetischen Diagnostik umfassend aufzuklären. Der Datenschutz ist in dieser Situation in Verantwortung für zukünftige Generationen wesentlich. Gute Beratungsgespräche sind extrem wichtig. Es ist eine sensible Situation, auf die man verständlich eingehen muss. Dafür braucht es viel Wissen, Kompetenz und Zeit.
Was erhoffen Sie sich von der Initiative genomDE?
Hahne: Ein entscheidender Baustein ist eine sichere Verknüpfung der vorhandenen Datenströme. Wir haben aktuell viele verschiedene Register und Datensammlungen. Die Initiative genomDE kann hier einen Verknüpfungspunkt bilden. Je mehr Informationen gebündelt werden, desto sicherer lassen sich Erkenntnisse ableiten. Für eine verbesserte Umsetzung müssen allerdings auch die Strukturen der Versorgung ausgebaut werden. Auch in einer Kleinstadt sollte der Zugang zu einer kompetenten und spezialisierten Diagnostik und Versorgung gewährleistet sein, sowie Daten für die Forschung zur Verfügung gestellt werden. Dafür sind Strukturen notwendig.
Mundlos: In der Versorgung sind in den vergangenen Jahren bereits wertvolle Strukturen wie das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) aufgebaut worden. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Strukturen erhalten und festigen. Dann können wir sinnvolle Ergänzungen etablieren und ausbauen.
Wo sehen Sie aktuell noch Schwierigkeiten?
Hahne: Aktuell kommen die Vorteile der Genommedizin leider nicht allen Patientinnen und Patienten zu Gute. Schwierigkeiten bereitet unter anderem die Finanzierungsgrundlage. Die Betroffenen sind teilweise auf Einzelfallentscheidungen angewiesen. Diese kosten häufig viel Zeit – Zeit, die die Betroffenen nicht haben. Ich hoffe, die Initiative genomDE kann hier einen Beitrag im Sinne der Patientinnen und Patienten leisten.
Mundlos: Beim Übergang in die Regelversorgung ist allerdings Vorsicht geboten. Es handelt sich hier um eine hochspezialisierte, interdisziplinäre Versorgung. Das kann eine einzelne Praxis in der Niederlassung nicht leisten. Wir müssen Strukturen aufbauen, die die Primärversorger entsprechend ihren Möglichkeiten einbinden. Unser Ziel ist es, dass alle Expertinnen und Experten, die den Patientenpfad begleiten, ihrer Rolle und Funktion gerecht werden können. Dafür müssen wir die Angebote und Aufgaben der Zentren für Seltene Erkrankungen in der Peripherie noch deutlich bekannter machen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Hahne: Ein Traum wäre, Krebs unterstützt durch die Genommedizin verhindern zu können oder heilbar zu machen – was wohl unrealistisch ist. Für den Moment ist ein interdisziplinäres Versorgungsnetzwerk wünschenswert, das für die Betroffenen erreichbar ist. Durch die Initiative genomDE könnte insbesondere eine verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen, die Wissensverluste vermeidet. Prävention und Therapie könnten so wirksamer und schneller die Betroffenen erreichen.
Mundlos: Die Versorgung muss ganzheitlich gedacht werden. Also, was passiert mit den Patientinnen und Patienten nach der Diagnosestellung? Sie sollten wissen, wer ihre nächste Ansprechperson ist und wie es mit ihrer Versorgung weitergeht. Mit genomDE können wir hoffentlich erreichen, dass die Betroffenen innerhalb eines Jahres eine Diagnose erhalten – das wäre ein echter Meilenstein für die Seltenen Erkrankungen.