Lauterbach: „Mit mir wird es keine Leistungskürzungen geben.“

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach spricht mit RND u. a. über die Notwendigkeit der anstehenden Krankenhausreform, Defizite der gesetzlichen Krankenkassen und einer digitalen Transparenzoffensive: „Es kann doch nicht sein, dass ich mich im Netz über die besten Restaurants in der Nähe informieren kann, aber nicht über die Qualität der Kliniken. Das muss sich ändern“, betont der Minister im Interview.

15. Juni 2023

Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): Herr Lauterbach, haben Sie schon mal in einem Krankenhaus gelegen – und wie haben Sie das erlebt?  

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Ich habe schon häufiger im Krankenhaus gelegen, auch in meiner Kindheit. Dabei habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Schon als Kind habe ich einmal die Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland spüren müssen.  

Inwiefern?  

Ich hatte mit 13 Jahren eine Operation an einer Knochzyste am Bein, nach der sich eine Komplikation entwickelt hat und eine Überprüfung durch den Chefarzt sinnvoll gewesen wäre. Ich habe ihn aber wochenlang nicht gesehen und musste kämpfen dafür, dass der Chefarzt mich behandelt. Dann hat sich herausgestellt, dass der Chefarzt gar nicht über meine Komplikationen informiert war. Das hat mich damals, mit 13, sehr bewegt und hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass ich Medizin studiert habe. In der Regel mache ich aber sehr gute Erfahrungen.  

Sie sagen selbst, dass nicht alle Kliniken die nötigen Standards haben. Hätten Sie Sorge, dass Sie mal in so einem Krankenhaus landen?  

Wenn ich einen wichtigen Eingriff benötigen würde, würde ich mich zunächst informieren: Welche Kliniken sind gut? Wie sehen die Ergebnisse der Klinikbehandlungen aus? Wie sind die Kliniken ausgestattet? Ich weiß wegen meines medizinischen Hintergrunds, wie ich diese Daten bekommen kann. Der normale Bürger nicht, er ist oft angewiesen auf Glück.  

Düstere Verhältnisse, die der Gesundheitsminister beschreibt.  

Das sind Verhältnisse, die wir beseitigen wollen. Wir werden die Qualitätsunterschiede zwischen den Krankenhäusern öffentlich machen. Nicht alle Krankenhäuser sind für alle Eingriffe geeignet. Und wir werden die Behandlungen mit der Krankenhausreform qualitativ aufwerten, in dem wir sicherstellen, dass Einrichtungen die entsprechenden Qualifikationen haben. Dafür wollen wir die verschiedenen Leistungen in Gruppen einteilen …  

… die vorgeben, welche personellen, technischen und qualitativen Mindestanforderungen für die Behandlungen erforderlich sind.  

Richtig. Und die Kassen sollen nur die Leistungen für die Kliniken bezahlen, die den Anforderungen entsprechen und bei denen die Qualität gesichert ist.  

Die Menschen möchten sicher gehen, dass sie – falls ihnen etwas zustößt - schnell in ihrer Umgebung gesundheitliche Hilfe bekommen. Können Sie das garantieren?  

Ja. Die Notfallversorgung wird ohnehin besser werden. Dafür planen wir ja eine Reform. Die Notaufnahmen sind derzeit überfüllt mit Menschen, die dort häufig gar nicht hingehören, sondern in die Praxen der niedergelassenen Ärzte. Das werden wir unabhängig vom Krankenhausgesetz adressieren.   

Wie wollen Sie sicherstellen, dass der ländliche Raum durch die Krankenhausreform nicht benachteiligt wird? Mit ihrer Reform werden sich Kliniken in der Fläche nur noch auf bestimmte Behandlungen konzentrieren.  

Wir sind weit davon entfernt, dass wir zu wenige Krankenhäuser haben. Es gibt in Deutschland 1719 Kliniken und kaum Flecken der Unterversorgung. 

Wenn es nach Ihnen geht, sollen allerdings Klinik-Levels eingeführt werden: von der wohnortnahen Grundversorgung, der Regel- und Schwerpunktversorgung zur Maximalversorgung. Im ländlichen Raum könnte es durchaus vorkommen, dass vor allem Grundversorgungseinrichtungen stehen, oder nicht?  

Nein. Wegen der Reform muss keine Klinik geschlossen werden. Wir verhindern eher noch Klinikschließungen. Die Gefahr der Unterversorgung steigt also, wenn wir diese Reform nicht umsetzen. Viele Kliniken sind fast insolvent. Wir wollen mit dem Klinikgesetz die Pauschalen für die einzelnen Behandlungen weiterentwickeln und künftig neben den Behandlungs- auch die Vorhaltekosten bezahlen. Einrichtungen bekommen dann auch Geld, wenn sie für eine Behandlung bereit sind, sie aber bisher nicht so oft durchführen. Schwierige Eingriffe brauchen natürlich Routine und Spezialisten. So würden besonders die kleinen Kliniken auf dem Land mit wenig Patienten und großen Finanzdefiziten retten. Alle Kliniken werden wir aber nicht vor der Insolvenz bewahren können.  

Wie viele Kliniken wird das treffen?  

Das ist schwer zu sagen. Es gibt Berechnungen, dass 25 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland bereits heute insolvenzgefährdet sind. Davon werden wir nicht alle retten können.  

Welche Eingriffe können dann noch in den kleinen Kliniken durchgeführt werden?  

Manche Krankenhäuser werden nicht mehr alle Abteilungen haben. In diesen Einrichtungen werden kleine chirurgische Eingriffe weiter möglich sein, etwa Gallenblasenoperationen oder HNO-Eingriffe. Auch eine Dehydrierung oder Knochenbrüche sollen dort versorgt werden können. Aber dass in kleinen Kliniken komplexe Krebsoperationen durchgeführt werden, damit soll Schluss sein. Und das hat nur Vorteile.  

Und zwar? 

Die kleinen Kliniken müssen dann nicht mehr im Hamsterrad arbeiten, sind auskömmlich finanziert und am wichtigsten: Sie machen bei den kleineren Eingriffen sehr gute Medizin. Große Kliniken können sich noch stärker spezialisieren. In erster Linie werden wir so die Qualität der Krankenhäuser verbessern. Pro Kopf gibt Deutschland so viel für die Gesundheitsversorgung aus wie die Schweiz, circa 6000 Euro. Wir kommen aber nicht an die Erfolge der Schweizer ran. Das liegt nicht an den Beschäftigten, sondern an den Strukturen.  

Inwiefern wird sich das verändern?  

Indem Patientinnen und Patienten dort behandelt werden, wo es die besten Voraussetzungen dafür gibt – gute Ärzte, gute Ausstattung, viel Erfahrung. Am 22. Juni werden wir eine Studie vorstellen, mit der wir untersucht haben, wie sehr sich die Versorgung verbessert, wenn die Spezialisten die schweren Fälle übernehmen. Man kann schon jetzt absehen, dass viel mehr Menschen durch die Reform überleben und viele Komplikationen verhindert werden, wenn Kliniken mit Erfahrung und Ausstattung eine Behandlung durchführen.  

Welche Auswirkungen hat die Reform auf die Personalsituation?   

Fakt ist: Wir haben nicht genug Ärzte und Pflegekräfte für 1719 Krankenhäuser. Schon jetzt nicht und erst recht nicht in einigen Jahren, wenn die Babyboomer-Generation in Rente geht. Wir brauchen eine Verdichtung von Kliniken, um dem Personalmangel entgegenzutreten. Die Reform ist ein Hebel, um den Fachkräftemangel zu entschärfen.  

Müssen sich die Patientinnen und Patienten auf längere Wartezeiten bei Operationen und Behandlungen einstellen, wenn weniger Kliniken nur gewisse Behandlungen vornehmen?  

Im internationalen Vergleich hat Deutschland sehr geringe Wartezeiten. Da liegt also kein Problem. Im Gegenteil: Das Problem ist, dass wir bei vielen Operationen gar keine Wartezeiten haben.  

Das müssen Sie erklären.  

In Deutschland werden zu viele künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt. Wirbelsäulen werden zu oft operiert, es gibt zu viele Herzkatheter- und Aortenklappen-Eingriffe. Hier wäre die optimale Wartezeit, wenn viele der Operationen einfach gar nicht gemacht würden.. Sie werden aber oft durchgeführt, damit Kliniken finanziell überleben.  

Auf längere Anfahrtszeiten werden sich die Patienten aber durchaus einstellen müssen.  

Was die Anfahrtszeiten anbetrifft, müssen wir den Patienten reinen Wein einschenken. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man fährt – sagen wir - 20 Minuten an, riskiert aber, dass der Krebs im Falle einer Erkrankung und anschließenden Operation zurückkommt. Oder man fährt wesentlich länger, dann aber in die Spezialklinik: Aber dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Krebs wiederkehrt, deutlich niedriger. Ich kenne niemanden, der die erste Variante wählen würde. Das passiert heutzutage nur, weil die Patienten nicht ausreichend informiert sind.  

Sie wollen deswegen ein Transparenzsystem über die Kliniken einführen. Wie wird das aussehen? 

Wir werden alle 1719 Kliniken auf einer Website aufführen und aufzählen, welche Leistungen sie erbringen und für welche Leistungen sie die Qualitätsvoraussetzungen erfüllen. Dann können die Patienten in einer Übersicht sehen, welche Behandlungen in welchen Einrichtungen durchgeführt werden und ob sie dort auch gemacht werden sollten. Wenn die Anforderungen für eine Behandlung nicht gegeben sind, wird dieser Eingriff in dem Krankenhaus rot markiert sein. Die Patienten sollen direkt auf Karten suchen können, welche Kliniken in der Nähe die Behandlung anbietet und ob dort eine sichere Versorgung gewährleistet ist. Die Kliniken sollen auch nach den Levels eingeteilt werden. 

Und das wird jeder verstehen können? 

Ja, das muss sein. Die Transparenzoffensive kommt unabhängig von der Klinikreform - sie ist überfällig: Die Verlierer der Intransparenz sind aktuell Ältere, bildungsschwache Familien und Menschen mit Sprachbarrieren. Es kann doch nicht sein, dass ich mich im Netz über die besten Restaurants in der Nähe informieren kann, aber nicht über die Qualität der Kliniken. Das muss sich ändern.  

Es liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor Ihnen. Die Länder sind sich mit Ihnen nicht einig. Kann die Reform scheitern?   

Ich will die Reform durchsetzen und bin zuversichtlich, dass die Eckpunkte vor der Sommerpause beschlossen werden.   

Zur nächsten Baustelle: Das Defizit der Gesetzlichen Krankenkassen liegt laut Spitzenverband im Jahr 2024 bei bis zu 7 Milliarden Euro. Wie wollen Sie Geld in die Kassen spülen?   

Ich gehe nicht davon aus, dass das Defizit der Gesetzlichen Krankenkassen in dieser Größenordnung liegt. Trotzdem wird es wohl ein Defizit geben. Zwei Dinge stehen allerdings fest: Finanzminister Christian Lindner hat klar gemacht, dass die Steuerzuschüsse an die Gesetzliche Krankenversicherung nicht erhöht werden können. Dabei steht es im Koalitionsvertrag. Er sieht sich dazu jedoch nicht in der Lage, weil er die Schuldenbremse einhalten will.   

Und das zweite?  

Mit mir wird es keine Leistungskürzungen geben. Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung wird daher im nächsten Jahr erneut leicht steigen müssen.

Es gibt noch einen weiteren Hebel: die Erhöhung der Bemessungsgrenze, die die Beiträge ab einem gewissen Gehalt deckelt.  

Dann müssten wir gleichzeitig die Versicherungs­pflicht­grenze anheben, die entscheidet, ob Arbeit­nehmer eine Private Kranken­versicherung ab­schließen dürfen. Das ist durch den Koalitionsvertrag aber ausgeschlossen. Ich hätte selber kein Problem damit, die Versicherungs­pflicht­grenze und die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben. Aber ich halte mich an Abmachungen.  

Nach dem Motto: Nicht noch mehr Ärger mit der FDP.  

Ich habe gar keinen Ärger mit der FDP. Darum geht es nicht. Es gibt keine zusätzlichen Steuermittel, und ich kürze keine Leistungen. Also steigen die Krankenversicherungsbeiträge. 

Diese Entscheidung wird aber die Menschen ärgern, die immer weiter steigende Sozialbeiträge finanziell belasten.  

Das muss uns die gute Versorgung wert sein. Wir machen große Strukturreformen, damit das System effizienter und qualitativ besser wird. So stabilisieren wir die Finanzlage des Gesundheitssystems langfristig.  

Sie sind als Mister Corona ins Amt gekommen, nun ist die Pandemie vorbei. Wie erleichtert sind Sie?  

Die Arbeit an der Digitalisierung im Gesundheitswesen und etwa am Krankenhausgesetz soll unser System von Grund auf reformieren. Ich habe dafür jetzt mehr Zeit, weil wir die Corona-Pandemie einigermaßen bewältigt haben. Für beides bin ich sehr dankbar.  

Zur Digitalisierung im Gesundheitswesen: Wann können Patienten das erste Mal das E-Rezept nutzen?   

Das E-Rezept ist endlich alltagstauglich. Zum 1. Juli 2023 können Patienten das erste Mal das E-Rezept in den Apotheken ganz einfach mit ihrer Versichertenkarte abrufen. Bis Ende Juli werden voraussichtlich schon 80 Prozent der Apotheken in Deutschland an das System angeschlossen sein. Wenn die Patienten ihre Versichertenkarte in den Apotheken in die Lesegeräte einsteckenen, liegt das E-Rezept dann bereits in der Datenbank vor. Es geht jetzt mit der Digitalisierung los! 

Warum erst jetzt? Die SPD war in den vergangenen Jahren immerhin auch an der Regierung beteiligt.  

Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann: Schon in den vergangenen Jahren hätte man die Gesundheitsreformen anschieben müssen, es ist aber nicht passiert. Ich packe es an.

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