Spahn: "Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre"

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Interview mit der BILD über die kommende Pflegereform – höhere Löhne für Pflegekräfte, bessere Leistungen für pflegende Angehörige und gedeckelte Kosten für Heimbewohner

04. Oktober 2020

BamS: Herr Minister, haben Sie mit Ihren Eltern geregelt, was passieren soll, wenn Ihre Mutter oder Ihr Vater zum Pflegefall wird?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Wir haben darüber gesprochen. Wie die meisten Deutschen wollen auch meine Eltern  so lange wie möglich zuhause bleiben. Sie leben seit Jahrzehnten in ihrem Haus im Münsterland. Wenn sie professionelle Hilfe bräuchten, wäre der erste Schritt je nach Bedarf eine Haushaltshilfe oder ein Pflegedienst. Aber natürlich kann es auch Situationen geben, in denen ein Pflegeheim mit 24-Stunden-Pflege das Beste ist.

Ein Heimplatz wird immer teurer. Die Patienten müssen für die Pflegeleistungen im Schnitt 786 Euro dazu zahlen. Können sich bald nur noch Reiche ein Pflegeheim leisten? 

Nein. Notwendige Pflege bekommt jeder, unabhängig vom sozialen Status. Das Versprechen gilt. Allerdings werden die Kosten, die Heimbewohner neben Unterbringung und Verpflegung für die reine Pflege zahlen müssen, für immer mehr Familien zum Problem. Seit 2017 ist dieser monatliche Eigenanteil für die stationäre Pflege um durchschnittlich 238 Euro gestiegen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen brauchen aber Planungssicherheit. Das schaffen wir, indem wir den Eigenanteil begrenzen. Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen. Das wären maximal 25.200 Euro.  Zwar bleibt die Pflegeversicherung auch dann eine Teilkaskoversicherung. Aber der Eigenanteil wird berechenbar.

Das ist trotzdem eine Menge Geld.

Stimmt. Aber es ist für viele deutlich weniger als heute. Wichtig sind Verlässlichkeit und Planbarkeit. Auf einen Maximalbetrag kann sich jeder vorbereiten und das absichern, etwa über eine private Pflegevorsorge. Die will ich zusätzlich ausbauen und so das Sparen fördern.

Ist es nicht ungerecht, dass ein Top-Manager und eine Erzieherin im Pflegefall dieselbe Summe dazu zahlen müssen?

Das wird nicht so sein. Denn für den Heimplatz kommen noch die Kosten für die Verpflegung und die Unterkunft dazu. Und da gibt es je nach Einrichtung und Ausstattung große Unterschiede. Der Deckel beim Pflegeanteil schützt vor allem diejenigen, die sich mit geringen und mittleren Gehältern ein wenig Wohlstand für ihre Familie aufgebaut haben. Der soll nicht durch immer weiter steigende Pflegekosten ganz aufgezehrt werden.

Und wenn jemand die 25.200 Euro nicht hat?

Dann springt wie bisher die Sozialhilfe ein. Jeder bekommt in Deutschland weiterhin die Pflege, die er braucht. Seit kurzem gilt übrigens, dass Kinder in aller Regel nicht mehr für ihre pflegebedürftigen Eltern finanziell einspringen müssen.

In der Corona-Pandemie gab es Beifall für die Pflegekräfte. Aber die Löhne sind immer noch sehr niedrig.

Das stimmt. 2018 haben nur 40 Prozent der Pflegeheime ihre Angestellten nach Tarif bezahlt, bei den ambulanten Pflegediensten waren es nur 26 Prozent. Auch Urlaubsansprüche und Sonderzahlungen fallen deutlich geringer aus als angemessen. Das muss sich ändern: In der Pflege sollte mindestens nach Tarif bezahlt werden.

Das fordert die Politik schon sehr lange sehr erfolglos.

Deshalb schlage ich folgende Regel vor: Um mit der Pflegeversicherung Leistungen abrechnen zu können, muss ein Pflegeheim oder ein Pflegedienst die Mitarbeiter in Zukunft nach Tarif bezahlen. Grundlage kann ein Haus- oder ein Branchentarifvertrag sein. Er muss von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern ausgehandelt sein. Für hunderttausende Pflegekräfte wird das zu deutlich mehr Gehalt führen. Aufgrund des Fachkräftemangels sitzen die Pflegekräfte bei den Tarifverhandlungen am längeren Hebel.

76 Prozent der Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt. Vom Partner, den Kindern, der Schwiegertochter. Nutzt das Pflegesystem diese Menschen als billige Lösung aus?

Pflege ist etwas sehr Intimes. Deshalb wollen viele Menschen diese Herausforderung innerhalb der Familie lösen. Aber es gibt Grenzen, wegen des Berufs, wegen eigener Kinder oder weil medizinische Fachkenntnisse nötig sind. Um Pflege zu Hause zu unterstützen, haben wir die Leistungen in den letzten Jahren bereits deutlich angehoben. Wir haben die Verhinderungspflege ausgebaut. Die greift, wenn der pflegende Angehörige durch Krankheit ausfällt. Mit der Kurzzeitpflege können Urlaub oder Erholung überbrückt werden. Das System ist aber kompliziert und die einzelnen Leistungen sind vor Ort nicht immer abrufbar, weil das entsprechende Angebot fehlt. Deshalb will ich als dritten Baustein der Pflegereform die Leistungen für pflegende Angehörige stärker bündeln.

Aber wo ist da der Vorteil?

Dann könnten Angehörige Hilfe flexibler in Anspruch nehmen. Für Verhinderungs- und Kurzzeitpflege möchte ich ein Jahresbudget in Höhe von 3.330 Euro einführen. Das soll jeder nach Bedarf einsetzen können. Dafür muss es natürlich auch ausreichend Angebote geben. Das werden wir fördern.

Mehr Geld für die Pflege zuhause gibt es aber nicht?

Auch da soll es mehr Verlässlichkeit geben. Das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen sollen jedes Jahr automatisch steigen. Das heißt: Wer zuhause pflegt, bekommt mehr Unterstützung.

Um wie viel Prozent?

Eine Erhöhung um einen Inflationsfaktor bietet sich an.

Mehr Geld für Pflegekräfte, weniger Zuzahlung von Pflegebedürftigen, höhere Leistung für Angehörige - was kostet das?

Diese Pflegereform kostet rund 6 Milliarden Euro pro Jahr. Ganz grob kann man sagen: Die Deckelung der Eigenanteile macht rund 3 Milliarden Euro aus, die bessere Bezahlung der Pflegekräfte rund 2 Milliarden, die Leistungen für die Pflege zuhause etwa eine Milliarde.

Wer soll das bezahlen?

Da wir als Regierung unser eigenes Versprechen ernst nehmen, die Lohnnebenkosten nicht über 40 Prozent steigen zu lassen, kommen Beitragserhöhungen nicht in Frage. Deshalb sollte das aus Steuermitteln finanziert werden.

Rückt Finanzminister Olaf Scholz das Geld raus?

In der Koalition sind wir uns einig: Wir wollen höhere Löhne für Pflegekräfte. Und es gibt einen Beschluss der Bundes-SPD, dass der Eigenanteil gedeckelt werden soll. Zudem fordert die SPD schon seit langem einen Steuerzuschuss für die Pflege. Deswegen bin ich sicher, dass der Finanzminister und Kanzlerkandidat der SPD das so sieht wie ich.

In Wahrheit heißt das: Die bessere Pflege bezahlen wir mit höheren Schulden, die die Enkel irgendwann zurückzahlen müssen...

Eine Finanzierung über den Haushalt ist solidarisch. Denn Menschen mit höherem Einkommen bezahlen ja mehr Steuern und tragen dann mehr zur Finanzierung der Pflege bei. Im Übrigen sollten wir bei Pflege nicht immer nur an die Kosten denken.

Sondern?

Eines haben wir doch in dieser Pandemie gelernt: Eine gute Gesundheitsversorgung und eine gute Pflege geben Halt und Sicherheit. Jeder in die Pflege investierte Euro ist eine Investition in die Mitmenschlichkeit unserer alternden Gesellschaft. Und es ist ein Wirtschaftsfaktor: 5,5 Millionen Menschen arbeiten in der Pflege und im Gesundheitswesen, deutlich mehr als ein Zehntel unseres Bruttosozialprodukts werden hier erwirtschaftet. Niemand sollte sich zudem während seiner Arbeit Sorgen machen müssen, dass seine Eltern oder Großeltern nicht gut versorgt sind. Davon profitieren auch die Arbeitgeber. Pflege ist die soziale Frage der 20er-Jahre.

Pflegeheime leiden besonders unter Corona. Wann kommen endlich die Schnelltest?

Die gibt es bereits. Die Frage ist, wann und unter welchen Bedingungen sie von den Krankenkassen bezahlt werden. Das regeln wir zum 15. Oktober. Schnelltests kommen vor allem für Besucher, Beschäftigte, Bewohner und Patienten von Pflegeheimen und Krankenhäuser in Betracht. Damit können wir verhindern, dass sich alte und kranke Mitbürgerinnen und Mitbürger anstecken. Für sie ist die Gefahr von schwerwiegenden Folgen einer Infektion am größten.

Was bedeuten die steigenden Corona-Zahlen für die Urlaubszeit?

Die Bundesregierung hat dazu aufgerufen, auf nicht notwendige Reisen in Risikogebiete zu verzichten. Zweimal sind durch Reiserückkehrer die Infektionszahlen angestiegen - erst nach dem Skiurlaub im März, dann nach den Sommerferien. Beim Herbst- und Winterurlaub sollten wir deshalb alle besonders verantwortungsvoll sein.

Wer aus einem Risikogebiet kommt, muss in Quarantäne. Soll der Urlauber für die Zeit Lohnfortzahlung bekommen, wenn er nicht von zuhause arbeiten kann?

Nein, künftig nicht mehr. Das haben Bund und Länder so beschlossen. Wer wissentlich in einem Risikogebiet Urlaub macht und wegen der Quarantäne zehn Tage nicht an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann, sollte auch die Kosten dafür tragen. Eine entsprechende Gesetzesänderung ist momentan in Arbeit.

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