Wir dürfen zehntausende Patientinnen nicht unnötig hinhalten
Spahn verspricht im FAZ-Interview Lipödem-Kranken zu helfen
Sprechstundenzeiten von Ärzten, Aufgabe der Selbstverwaltung und Hilfe für Frauen mit krankhaften Fettverteilungsstörungen - hier finden Sie die Antworten von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf die Fragen von Andreas Mihm, Frankfurter Allgemeine (FAZ) vom 22.01.2019.
Frankfurter Allgemeine (FAZ): Macht es Ihnen Freude, die Selbstverwaltung der Ärzte, Kassen und Krankenhäuser im Gesundheitswesen aufzumischen?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Wichtig ist doch, dass unser Gesundheitswesen funktioniert und sich die Patienten darauf verlassen können. Die Selbstverwaltung erledigt viel. Doch für manche Entscheidungen braucht sie zu lange. Ich bin Fan einer funktionierenden Selbstverwaltung.
Die ist dann gut, solange sie tut, was der Minister will?
Nein. Sie ist gut, solange sie entscheidet. Etwa über die Behandlung von Frauen, die unter einer krankhaften Fettverteilungsstörung – dem Lipödem - leiden. Da hat sich die Selbstverwaltung selber blockiert, wollte dieses Thema fast zehn Jahre vor sich herschieben. Das geht nicht. Da würden Zehntausende Patientinnen unnötig hingehalten.
Muss deshalb der Minister künftig entscheiden, was die Krankenversicherung zahlt?
In Ausnahmefällen.
Ihr Gesetzesvorschlag bietet Ihnen sehr weitreichende Möglichkeiten.
Die Selbstverwaltung spielt in unserem Gesundheitssystem eine wichtige Rolle. Das soll auch so bleiben. Aber wenn sie nicht entscheidet, muss der Gesundheitsminister den konkreten Konflikt lösen können. Dafür hat er die Rechtsaufsicht. Und dafür hat er auch die demokratische Legitimation.
Die demokratische Legitimation des Bundesausschuss wird angezweifelt, selbst von Bundesverfassungsrichtern. Ihr Vorgänger hat dazu Gutachten schreiben lassen. Wollen Sie den Ausschuss reformieren?
Es gibt viele Vorschläge für eine Reform. In der Regel läuft das aber darauf hinaus, dass alle diejenigen in dieses Entscheidungsgremium wollen, die bislang noch nicht mitentscheiden dürfen. Das würde die Abläufe nicht per se besser machen. Ich kann da nur Winston Churchill plagiieren: „Es ist nicht perfekt, aber uns ist noch nichts Besseres eingefallen.“ Dieses Gremium, das im Auftrag des Bundestages untergesetzliche Entscheidungen trifft, ist grundsätzlich ein bewährtes Instrument. Wir brauchen nur Mechanismen, um sicherzustellen, dass es funktioniert.
Sind Sie ein Zentrist?
Ich?
An vielen Stellen beschneiden sie Mitwirkungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung. Zum Beispiel bei den Therapeuten. Dort werden Honorare auf Landesebene verhandelt. Das soll künftig bundesweit geschehen. Zudem heben sie die Honorare auf den jeweils höchsten Landeswert an. Das ist zentrale Steuerung.
Nicht alle Berufe sind so gut organisiert wie die Ärzteschaft. Es gibt auch Gruppen im Gesundheitswesen, die regional nicht auf Augenhöhe mit den Kassen verhandeln können, etwa bei den Physio- oder Ergotherapeuten, aber auch in der ambulanten Pflege. Viele Anbieter haben es da sehr schwer gegenüber den Kassen. Und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was mir berichtet wird, dann nutzen einige Krankenkassen ihre Marktmacht in manchen Regionen auch missbräuchlich aus. Deshalb müssen wir Wege finden, das zu heilen, etwa mit bundeseinheitlichen Regelungen, die dafür sorgen, dass alle Beteiligten auf Augenhöhe sind. Das bisherige Verfahren ist jedenfalls nicht befriedigend. Am Ende sitzen die Kassen immer am längeren Hebel.
Subsidiarität war der CDU ja auch immer wichtig. Sie ernst zu nehmen, würde bedeuten, Probleme dort zu lösen, wo sie bestehen: auf der regionale Ebene.
Bei den Therapeuten gibt es regional sehr große Einkommensunterschiede. Und insgesamt wird ihre Leistung nicht angemessen honoriert. Das wollen wir schnell lösen. Auch, um die flächendeckende Versorgung nicht zu gefährden. Die sogenannten Heilmittelerbringer drängen zurecht auf bessere Bezahlung. Sie sagen, sonst gibt es viele von uns in zwei Jahren gar nicht mehr, weil wir pleite sind.
Bei den Ärzten greifen Sie auch ein. Die sollen Versorgung sicherstellen, aber das selbst organisieren. Stattdessen schreiben Sie denen nun vor, dass die Öffnungszeiten der Praxen von 20 auf mindestens 25 Stunden in der Woche steigen müssen.
Das steht so im Koalitionsvertrag, daran bin ich gebunden. Aber die Ärzte bekommen zusätzliches Geld, wenn sie für mehr Patienten da sind. Und Angst vor Regressen müssen sie dann auch nicht haben. Dieser Teil der Reform wird leider zu wenig wahrgenommen.
Die Psychotherapeuten sind auch auf den Bäumen, weil sie den Zugang der Patienten neu regeln wollen.
Wir haben ausführlich miteinander gesprochen. Offensichtlich sind wir uns einig, dass bestimmte Patienten schneller einen Termin beim Psychotherapeuten bekommen müssen. Nur über die Formulierung des Gesetzentwurfs gibt es Streit. Die Therapeuten haben Sorge, dass wir zum „Delegationssystem“…
... der Arbeit unter ärztlicher Aufsicht ...
...zurückkehren wollen. Das ist nicht so. Und deshalb macht es Sinn, das anders zu formulieren. Das zeigt auch, dass es sinnvoll ist, dass wir uns Zeit zur Beratung nehmen, dass wir im Gespräch mit allen Beteiligten unsere Gesetzespläne prüfen. Das gilt übrigens auch für den Dialog mit der Ärzteschaft. Wir werden manche Vorschläge im Terminservice- und Versorgungsgesetzes noch ändern. Wir können gleiche Ziele besser erreichen, indem wir mehr Verantwortung in die Region geben.
In der Debatte um staatlichen Einfluss auf das Gesundheitswesen kommt man an der Gematik nicht vorbei. Das ist jene von der Selbstverwaltung kontrollierte Gesellschaft, die die digitale Vernetzung voranbringen soll, was bekanntlich nicht so geklappt hat, wie gewünscht.
Das ist ein trauriges Kapitel. Es ist wie mit dem Berliner Flughafen. Wo man das Thema anspricht, erntet man Gelächter, weil da seit 14 Jahren nichts passiert, – zumindest nichts, was die Versicherten merken würden. Das ist ein Problem, das über das Gesundheitswesen hinausreicht. Es führt zu einem Verlust an Vertrauen in Politik und Verwaltung. Auch deshalb kann die heutige Struktur der Gematik ...
... mit Ärzten, Zahnärzten, Apothekern, Krankenhäusern und Krankenkassen als Kontrolleuren ...
...nicht bleiben, wie sie ist. Trotz mancher Verbesserungen führt sie nicht zu zügigen Entscheidungen. Und ich will, dass wir mit der elektronischen Patientenakte zügig zu greifbaren Erfolgen kommen. Die Verantwortung liegt am Ende beim Minister. Die Leute kommen ja mit ihren Beschwerden nicht zu den Kassen, sondern zu uns, zur Politik. Wenn uns die Verantwortung zugeschrieben wird, dann müssen wir sie auch wahrnehmen.
Sie sind also doch ein Zentrist, der alles an sich zieht?
Ich würde eher sage: Ich bin ein Entscheider. Ich möchte, dass wir zu Ergebnissen kommen. Aber für gute Entscheidungen braucht es eine Debatte über Möglichkeiten und Alternativen. Und die beginnt, wenn einer einen Vorschlag macht…
Lassen Sie uns über Geld reden. Sie haben die Kassen dafür kritisiert, dass die zu viel Geld horten. Jetzt haben rund drei Dutzend ihre Zusatzbeiträge zum Jahreswechsel gesenkt. Sind sie damit zufrieden?
Seit Januar sind die Zusatzbeiträge für fast 20 Millionen Mitglieder gesunken. Das ist ein wichtiges Signal an die Leute, die jeden Morgen zur Arbeit gehen und damit den „Laden am Laufen halten. Auch für die nächsten Jahre gilt: Die Kassen sollen Rücklagen haben, aber kein Geld horten.
Nur, so wie Sie und die Koalition neue Leistungen beschließen, bleibt da am Ende nicht mehr viel für Beitragssenkungen übrig.
Das wird sich neu einpendeln. Mit fast 30 Milliarden Euro Rücklagen im Gesundheitsfonds und bei den Kassen ist da schon noch Spielraum.
Ihr Vorgänger Hermann Gröhe (CDU) hatte den zweifelhaften Ehrentitel des teuersten Gesundheitsministers. Wollen sie ihm den Rang ablaufen?
Nur fürs Protokoll: Ein nicht geringer Teil der Pflegebeitragserhöhung war nötig, um die in der vergangen Wahlperiode beschlossene Leistungsausweitung zu bezahlen. Aber klar ist: Es ist schöner, Gesundheitsminister in Zeiten zu sein, in denen es wirtschaftlich gut läuft. Das heißt aber nicht, dass wir mit dem Geld der Versicherten sorglos umgehen. Denn Wirtschaftswachstum ist die Voraussetzung für eine Gesundheits- und Pflegepolitik, die gestalten will und Probleme adressieren kann. Deshalb sind mir die Beitragssenkungen wichtig, die helfen bei den Lohnnebenkosten auch den Arbeitgebern.
Die Konjunkturindikatoren zeigen schon nach unten. Wäre es nicht sinnvoller, die Ausgaben zu bremsen? Frei nach dem Sprichwort „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“.
Man darf das Gesundheitswesen nicht nur als Konsument von Gelder betrachten. Hier arbeiten 5,5 Millionen Menschen. Sie erwirtschaften zwölf, 13 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Konsumimpulse, die im Gesundheitswesen gesetzt werden, sorgen für Wachstumsimpulse in anderen Bereichen. Ebenso gilt: Wer im Gesundheitswesen spart, der sorgt für negative Wirkungen in anderen Wirtschaftsbereichen. Dennoch müssen wir uns Effizienzpotentiale anschauen. Das Thema wird auch im neuen Jahr eine Rolle spielen.
Wo?
Zum Beispiel im Pharmabereich, etwa bei neuen und sehr hochpreisigen Gentherapien. Da kann eine Behandlung schnell deutlich mehr als 300000 Euro kosten. Da müssen wir ein besseres Korsett schneidern. Oder bei den Biosimilars. Die eröffnen großes Einsparpotential. Allein die Tatsache, dass das Patent für das Rheumamittel Humira abgelaufen ist, spart den deutschen Krankenkassen bis zu 600 Millionen Euro im Jahr.
Das wiegt die absehbaren Zusatzausgaben, die ihre Regierung beschossen hat oder beschließen will, bei weitem nicht auf.
Das stimmt. Aber wir haben diesen Spielraum in Zeiten von Haushalts- und Kassenüberschüssen. Und wir nutzen ihn mit Augenmaß für sinnvolle Ausgaben.
Wahrheit ist auch, dass Sie, kaum dass der Beitrag zur Pflege um 0,5 Punkt angehoben ist, eine Grundsatzdebatte über die Pflege verlangen.
Politik darf sich nicht beschränken auf eine kurzfristige Perspektive. Das wäre verantwortungslos. Und dass wir die Pflege-Debatte führen müssen, liegt doch auf der Hand. Der Pflegebedarf ist mit 3,4 Millionen Hilfeempfängern ziemlich offenkundig. Die Zahl steigt jedes Jahr. 1,7 Millionen Menschen haben Demenz. Jeder kennt das konkret aus der eigenen Familie. Da werden wir auf Dauer auch mehr Geld brauchen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass der Beitragssatz bis 2022 stabil bleiben kann.
Das haben wir vor ein paar Jahren schon einmal gehört. Und danach?
So viele Stellschrauben gibt es da ja nicht: Beiträge, Steuerzuschuss, Eigenbeteiligung. Das auszutarieren ist eine Grundsatzdebatte. In der Rentenpolitik schauen wir jetzt endlich auf das übernächste Jahrzehnt. Das muss auch für die Pflege passieren. Mein Anspruch ist es, die Dinge in der Pflege nicht nur bis 2022 zu ordnen, sondern darüber hinaus. Dafür ist der bei der Bundesbank angelegte Pflegevorsorgefonds ein wichtiger Beitrag.
Für den Fonds, in den 0,1 Prozentpunkte des Pflegebeitrags fließen, um ab Mitte der 30er Jahre die Pflegekosten mit zu finanzieren, war ja auch Ihre Erfindung.
Ja, dafür habe ich lange gekämpft. Und das hat nicht immer nur Begeisterung ausgelöst. Aber der Fonds funktioniert und erwirtschaftet sogar Zinsen.
Aus der Unionsfraktion wird gefordert, den Eigenbeitrag in der Pflege zu deckeln und stattdessen den Eigenanteil der Versicherten auszuweiten, also das bisherige System umzukehren. Was halten Sie davon?
Das hat Vor- und Nachteile. Genau darüber müsste man grundsätzlich diskutieren.
In der Debatte um die Kassenfinanzen kommt die Finanzierung durch den Gesundheitsfonds oft zu kurz. Viele Kassen halten die für unfair und wettbewerbshemmend. Was sagen Sie denen?
Wir werden dazu bald einen Reformvorschlag vorlegen. Ziel ist, die Unwuchten im System abzubauen, den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen fairer zu gestalten. Das ist auch im Sinne der Patienten. Denn die Krankenkassen benötigen dort das Geld, wo ihre Versicherten auch versorgt werden. Und nicht dort, wo keine Ausgaben drohen. Darüber reden wir gerade mit den Koalitionsfraktionen. Am Ende wird es so sein - und hier kehren wir zum Ausgang des Gesprächs zurück - dass der Minister einen Vorschlag machen muss, an dem sich dann wohl wieder alle anderen abarbeiten werden. Sonst passiert nichts…
Das Interview führte Andreas Mihm.