Spahn: „Wollen aktuelle Dynamik brechen und weiterhin schnell reagieren können"
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Bundestag zum Entwurf des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite
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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rund neun Monate sind vergangen, seitdem unsere Gesellschaft von Covid-19 in ihrem Kern getroffen wurde. Niemand von uns hat eine vergleichbare Situation je erlebt. Wir haben in den letzten neun Monaten gemeinsam daran gearbeitet, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen - unter großer Anstrengung, mit vielen Härten und Verzicht. Wir alle erinnern uns an die schrecklichen Bilder aus Bergamo in Italien oder aus Ostfrankreich. Unser gemeinsames Ziel war und ist es, eine derartige Situation in Deutschland nicht zuzulassen.
Wir tun alles, um unsere Bürgerinnen und Bürger zu schützen, gerade auch die Älteren und Vorerkrankten.
Und ja, wir haben eine bittere Medizin schlucken müssen - und müssen sie wieder schlucken: Starke Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Fast 200 000 Menschen in Deutschland sind, Stand heute, an dem Virus erkrankt; mehrere Hunderttausend in Isolation oder in Quarantäne. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer fürchten um ihre Existenz, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Job. Kinder und Jugendliche mussten monatelang auf Schule und Kita verzichten. Eltern mussten mit der Doppelbelastung aus Homeoffice und Kinderbetreuung umgehen. Risikogruppen haben sich aus Angst vor dem Virus aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Ärztinnen und Pfleger, Gesundheitsämter und örtliche Verwaltungen stehen unter großem Druck. Pflegebedürftige haben ihre Angehörigen nicht mehr gesehen. - Das war und das ist eine bittere Medizin.
Manches würden wir mit dem Wissen von heute anders machen. Aber: Die Medizin hat gewirkt. Wir haben es in der ersten Phase der Pandemie geschafft, die Kurve abzuflachen und die Dynamik zu brechen. Wir haben einen vergleichsweise ruhigen Sommer erlebt. Und wir tun auch jetzt wieder alles, um die Kurve abzuflachen und unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen.
Dafür braucht es eine nationale Kraftanstrengung. Die Lage ist ernst. Die Zahl der Menschen, die wegen Corona auf Intensivstationen behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zehn Tagen verdoppelt.
Stand heute kann das Gesundheitssystem noch damit umgehen. Aber eine Verdopplung alle zehn Tage, das schafft das beste Gesundheitssystem auf Dauer nicht. Diese Dynamik ist zu stark, und wir müssen sie gemeinsam brechen.
Und ja, es gibt einige, die sagen, es reiche nicht, jeden Tag nur auf die Infektionszahlen zu schauen. Das stimmt. Das haben wir übrigens auch nie gemacht.
Jeden Tag werden im Lagebericht des Robert-Koch-Instituts eine ganze Reihe von Parametern, Zahlen und Entwicklungen veröffentlicht, die man natürlich immer alle im Zusammenhang sehen muss. Aber ich habe dieses Argument, man sollte doch mehr auf die Intensivstationen schauen, das würde reichen, nie verstanden. Wenn die Intensivstationen einmal mit Covid-19-Patienten voll sind, wenn sie überfüllt sind, dann ist es zu spät, vor allem für diejenigen, die dort liegen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Über 20 000 Neuinfektionen haben wir heute. Das ist ein neuer Höchstwert auch hier in Deutschland. Wir sehen: Die Dynamik schwächt sich ab, die Steigerungsrate sinkt, aber es steigt noch. Wir brauchen hier auch ein Stück Geduld, weil die Zahlen von heute das Infektionsgeschehen von letzter Woche widerspiegeln. Gleichwohl sehen wir aber eben auch: Mit stark steigenden Infektionszahlen steigt zeitlich versetzt auch der Behandlungsbedarf, übrigens auch im ambulanten Bereich. Fast 200 000 Patienten müssen ambulant behandelt werden.
Das Tückische ist: Exponentielles Wachstum ist heimtückisch. Es bedeutet: Wenn eine Intensivstation nach zehn Tagen halb voll ist, ist sie nach weiteren zehn Tagen ganz voll. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die aktuelle Entwicklung jetzt schnell und entschlossen brechen. Deshalb ist es wichtig, dass wir weiter schnell reagieren können. Deshalb dieser Gesetzentwurf.
Das Gesetz soll ermöglichen: Schutzimpfungen gegen Corona und Testungen auch für Nichtversicherte, wenn eine Rechtsverordnung unseres Ministeriums das vorsieht. Es soll ermöglichen: die bessere Nachverfolgung des Infektionsgeschehens durch digitale Einreiseanmeldung nach Aufenthalten in Risikogebieten im Ausland. Es soll ermöglichen: auf der Grundlage einer Definition des Begriffs „Risikogebiet“ den Ausschluss von Entschädigung wegen Verdienstausfalls, wenn es eine vermeidbare Reise in ein Risikogebiet war. Es soll ermöglichen: mehr Laborkapazitäten für Coronatests, eine Modifizierung des Arztvorbehalts, um patientennahe Schnelltests noch schneller einsetzen zu können und bei Bedarf auch Kapazitäten der Veterinärmedizin zu nutzen.
Und ich möchte dem Parlament in der nächsten Sitzungswoche vorschlagen, das Gesetz um Regelungen zu ergänzen, um die Krankenhäuser wirtschaftlich abzusichern, noch mehr, als wir es bisher gemeinsam in dieser Situation schon getan haben. Kein Krankenhaus soll wirtschaftlich einen Nachteil dadurch haben, dass es in dieser Pandemie mithilft, in diesem besonderen Monat und in dieser besonderen Phase.
Mit diesem Gesetz, das wir jetzt beraten, bleiben die Mitsprache- und Entscheidungsrechte von Bundestag und Bundesrat gewahrt. Der Bundestag hat immer die Möglichkeit, die Rechtsverordnungen zu ändern oder den Verordnungen die Basis zu entziehen. Wenn das Parlament die epidemische Lage für beendet erklärt, enden auch alle Rechtsverordnungen automatisch.
Unsere gemeinsame Diskussion der letzten Tage hat hier bereits zu einem Ergebnis geführt, nämlich dem neuen § 28a im Infektionsschutzgesetz. Zur rechtlichen Klarstellung und Fundierung sollen die möglichen besonderen Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus beschrieben werden. Und es sollen Schwellenwerte bei den Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen festgelegt werden: als Messlatte zur Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und um zu regeln, ab wann bundesweit einheitliche Maßnahmen angeordnet werden sollen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Debatten hier im Parlament, auch die kritischen Anmerkungen. Genau diese Debatten zeichnen unsere Demokratie aus.
(Beatrix von Storch (AfD): Gott sei Dank sind wir da!)
- Finde ich auch, also dass das Parlament da ist, nicht dass Sie da sind.
- Nein, ich meinte jetzt in dieser Debatte, weil ich zu oft erlebe, dass jedenfalls einige in Ihrer Fraktion - nicht die Kollegen im Gesundheitsausschuss; mit denen habe ich einen guten fachlichen Austausch - versuchen - dazu gehört im Zweifel auch die Zwischenruferin -, aus der Pandemie und der schwierigen Lage ein politisches Geschäft zu machen. Und das, finde ich, geht an dieser Stelle einfach nicht.
Klar ist, diese Pandemie ist eine echte Mammutaufgabe. Der Höhepunkt dieser Pandemie, dieser Aufgabe ist wohl noch nicht erreicht. Niemand kann mit Gewissheit sagen, was die nächsten Monate bringen werden. Das verunsichert viele. Viele haben in den letzten neun Monaten Situationen erlebt, bei denen wir einander verzeihen mussten, ob im Beruflichen oder im Privaten. Wichtig ist es, kritisch zu sein, auch kontrovers und manchmal emotional; aber ich finde es genauso wichtig, dabei nicht zu verhärten oder unerbittlich zu werden. Corona ist für uns als Gesellschaft zu einem echten Charaktertest geworden. Ob wir ihn bestehen, liegt an uns allen.
Die Pandemie setzt unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen unter Druck. Die Pandemie hat an vielen Stellen aber auch unsere guten Eigenschaften hervorgehoben. Sie zeigt, was in uns steckt. Es gibt trotz aller Härten einen großen Zusammenhalt. Es gibt eine große Solidarität, gerade auch der Jüngeren gegenüber den Älteren. Es gibt viel Flexibilität, Kreativität und Besonnenheit. Und: Es gibt eine gute, konstruktive Zusammenarbeit hier im Parlament, zwischen Bund und Ländern, in den Gemeinden, Städten und Landkreisen.
Auf all das können wir stolz sein. Aus alldem können wir Zuversicht schöpfen. Wir wissen heute besser als im Frühjahr, wie es geht und was wirkt. Wir lernen jeden Tag etwas über dieses Virus und über den Umgang mit diesem Virus dazu. Wir sind dem Virus nicht machtlos ausgeliefert. Wir wissen, wenn 80 Millionen mitmachen, die AHA-Formel anwenden, die App nutzen, regelmäßig lüften, dann können wir diesem Virus viel entgegensetzen.
(Abg. Armin-Paulus Hampel (AfD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Wir geben aufeinander Acht; wir achten einander. Wir werden auch die kommenden Herausforderungen gemeinsam bestehen.
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Ja.
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Herr Kollege.
Armin-Paulus Hampel (AfD):
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Minister, Sie planen in diesem Gesetzesvorschlag unter anderem, dass Privatwohnungen kontrolliert werden können. - Ich will es gerne wiederholen: privater Wohnraum. Das steht dadrin.
Wie muss ich mir das vorstellen? Eine Familie mit Kindern, die Eltern sind abends eingeladen, die Kinder im Teenageralter laden ihre Freunde ein, vielleicht ein paar zu viel nach Ihren Vorstellungen, und der Nachbar - das haben wir ja heute überall; das Denunziantentum ist ja inzwischen weit verbreitet - ruft die Polizei und sagt: Da findet eine Party statt, bei der mehr als fünf Leute beieinandersitzen, familiär miteinander nicht verbunden. - Wie muss ich mir das vorstellen? Sollen dann die Ordnungshüter bei dieser Wohnung klingeln, sich Zutritt verschaffen und unter den Betten kontrollieren, ob sich da Jugendliche verstecken, in der Wohnung aufhalten oder nicht?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Herr Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, dass es dieses Phänomen auch heute schon gibt: Wenn es in der Nachbarwohnung zu laut ist und es zu Ruhestörungen kommt, kann sich jemand an die Ordnungsbehörden wenden. - Dafür gibt es schon heute klare Prozeduren, und daran ändert sich im Übrigen auch nichts.
Ich bin übrigens von einem fest überzeugt - deswegen sollten Sie die Debatte auch gar nicht in diese Richtung drehen -: Das, was notwendig ist in dieser Pandemie, damit wir gemeinsam gut durch diese schwierige Zeit kommen, werden wir am Ende nicht durch Zwang und denunzieren erreichen, sondern dadurch, dass wir aufeinander aufpassen und aufeinander aufpassen wollen. Darum geht es doch vor allem in dieser Gesellschaft.
Übrigens finde ich es im positiven Sinne sehr bemerkenswert, dass entgegen dem, was wir manchmal an Bildern sehen oder was manchmal verbreitet wird, eine ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sagt: Die Maßnahmen sind richtig. - Sie unterstützen sie, und sie leben sie in ihrem Alltag. Genau das ist es, was wir jetzt bei allen Schwierigkeiten - ich sage es noch einmal: es sind für viele echt harte und schwierige Zeiten - brauchen: dass die allermeisten sagen: Wir wollen aufeinander aufpassen. - Das bringt uns sicher durch diese Pandemie. Wenn Sie dabei mal mithelfen würden, dass es genau dieses Bewusstsein gibt, dann wäre es noch besser.