Spahn: „Es braucht eine Brücke zum Brechen dieser Welle“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Bundestag zum 4. Bevölkerungsschutzgesetz
Klicken Sie auf den Button, um den Inhalt nachzuladen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Coronavirus hat Deutschland verändert - im Großen wie im Kleinen. Diese Pandemie und der Kampf gegen dieses Virus prägen unseren Alltag. Es verursacht Leid, Härten und Kosten - für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Und ja, seit über einem Jahr ist es notwendig, unter Abwägung, auch unter Unwägbarkeiten tiefgreifende Entscheidungen zu treffen. Heute sind weitere notwendig. Über jede einzelne dieser Entscheidungen muss es in einer freiheitlichen Gesellschaft Debatten geben,
und es muss ein Abwägen geben, so wie wir das in den Beratungen der letzten Tage - jedenfalls die, die an den Beratungen teilgenommen haben - gemacht haben. Manche fragen nun: Was ist anders als vor einem Jahr? Hat sich denn nichts geändert? Noch mal die gleichen Maßnahmen wie in der ersten und in der zweiten Welle? Doch: Viel hat sich geändert: Die Medizin, die Wissenschaft, jeder Einzelne von uns weiß heute mehr über dieses Virus:
wie es sich überträgt, was es im Körper anrichtet. Wir wissen auch besser, wie wir uns schützen können. Wir haben unseren Instrumentenkasten beständig erweitert.
Zwei Beispiele: Wir haben inzwischen beachtliche Testkapazitäten aufgebaut - in den Laboren, aber vor allem auch bei den Schnelltests. Seit der Bund den kostenlosen Bürgertest eingeführt und dessen Kosten übernommen hat, sind über 15 000 Teststellen im ganzen Land entstanden, und es werden jeden Tag mehr.
Auch die Impfkampagne hat sich enorm beschleunigt. Wir haben neue Tagesrekorde gesehen und werden bald weitere sehen. Allein gestern wurden über 535 000 Menschen geimpft. Mittlerweile ist jeder fünfte Deutsche geimpft, Anfang Mai wird es jeder vierte sein, in wenigen Wochen jeder dritte.
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn:
Ich finde, die Debatte ist schon lebhaft genug. Es geht jetzt ohne.
Herr Gauland, Sie haben gerade über Impfstoffbeschaffung geredet. Ich finde es ja gut, wenn Sie hier grundsätzlich über Multilateralismus beim Impfen reden. Aber noch wichtiger fände ich es, wenn Sie in dieser Phase für das Impfen werben würden. Sie persönlich tun das, mit Beispiel, aber Ihr eigener Bundesparteitag hat vor dem Impfen in dieser Pandemie gewarnt.
Sie können hier noch so viel über multilaterale Fragen und Grundsätzlichkeiten in der Pandemie reden: Wenn Sie selbst nicht für das Impfen werben, werben Sie nicht für den Weg raus aus dieser Pandemie.
Das ist das Problem mit Ihrer Partei: dass Sie am Ende nicht genau wissen, was Sie wollen in dieser Pandemie.
Aber Impfen und Testen allein reichen nicht, um die dritte Welle zu brechen. Wir können das Virus nicht wegtesten. Wir können auch gegen eine Welle nicht animpfen. Das ist keinem Land gelungen, übrigens auch nicht Israel oder dem Vereinigten Königreich. Wir müssen also erst diese dritte Welle brechen. Dazu gibt es ein bewährtes, ein erprobtes, ein ebenso banales wie wirksames Mittel:
das Reduzieren von Kontakten und damit von Infektionen. So schwer es fällt, so leid wir es sind: Kontakte reduzieren hilft; denn nur, wenn wir anderen begegnen, hat das Virus eine Chance, sich zu verbreiten.
- Das Virus lässt sich übrigens auch nicht wegschreien und wegleugnen. Das hilft alles nichts.
Die Lage ist ernst, sehr ernst. Dafür reicht ein kurzer Blick auf die härteste Werbung in dieser Pandemie: ein Blick auf die Zahlen der Intensivstationen, die tagesaktuell sind und die sich nicht relativieren lassen.
Wir zählen wieder 5 000 Covid-19-Intensivpatienten, Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten. Wir dürfen nicht vergessen: Jeder dritte Covid-19-Patient in den Kliniken - nicht nur auf den Intensivstationen - stirbt. Die Lage ist in vielen Krankenhäusern weiter dramatisch. Patienten müssen verlegt werden, andere Behandlungen verschoben.
Seit unserer ersten Debatte hier im Bundestag war ein Ziel - jedenfalls für die Mehrheit dieses Hauses und für die Bundesregierung - immer klar: Wir wollen eine Überlastung unseres Gesundheitssystems vermeiden - eine Überlastung übrigens, die viele unserer Nachbarländer schmerzhaft erlebt haben.
Und ja, Sie haben über das Grundgesetz geredet. Ralph Brinkhaus hat darauf hingewiesen. Im Grundgesetz gibt es auch Schutzrechte und Verantwortung für den Staat und für uns alle. Die gesundheitliche Unversehrtheit gehört dazu.
Wenn Sie schon das Grundgesetz und diese Frage in Ihren Debatten zum Maßstab machen, dann sollten Sie auch die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen, mitten in einer Pandemie, die so viel Leid verursacht.
Am vergangenen Sonntag habe ich die Intensivstation in Köln-Merheim besucht. Was Professor Karagiannidis und sein Team dort jeden Tag leisten - über menschliche Belastungsgrenzen hinweg -, darf für uns als Gesellschaft nicht selbstverständlich sein, und wir können ihnen nur Dankeschön sagen für das, was sie jeden Tag tun.
Und wir können ihnen zusagen, dass wir ihre eindringlichen Warnungen ernst nehmen.
Es gibt eine Korrelation zu der Zahl der Intensivbetten: die Zahl der Neuinfektionen. Da gibt es eine Korrelation. Einige versuchen immer, diese beiden Zahlen voneinander zu trennen, aber sie hängen miteinander zusammen. Das eine folgt logisch dem anderen. Wir haben das doch in den letzten Monaten gesehen, nicht nur in Deutschland, auf der ganzen Welt. Deswegen verstehe ich die Logik nicht, dass einige immer warten wollen, bis die Intensivstationen überfüllt sind, bevor sie Maßnahmen ergreifen. Wenn wir Leid vermeiden können, sollten wir es vermeiden, rechtzeitig, und Infektionen erst gar nicht entstehen lassen.
Genau dem dient dieses Gesetz: eine Notbremse per Bundesgesetz. „Notbremse“ heißt übrigens: Auch vorher sollte man das Bremsen schon beginnen durch regionale und lokale Maßnahmen. Es geht um drei Lebensbereiche, die die Infektionen aktuell ausmachen: der betriebliche Alltag - es ist schon angesprochen worden: mehr Homeoffice, mehr Testverpflichtung, weniger Mobilität -, der Alltag in Schule und Kita - auch dort mit klaren Vorgaben für regelmäßige Tests, für Wechselunterricht und Notbetreuung; bei den 6- bis 20-Jährigen sehen wir übrigens gerade sehr, sehr viele Infektionen - und der Bereich der privaten Kontakte. Das sind die drei Bereiche, in denen wir gerade viele Ausbrüche sehen. Zwei Drittel aller Ausbrüche in Deutschland finden im Moment im privaten Bereich statt. Deswegen sind Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen notwendig.
Es ist schwer - es fällt auch keinem von uns leicht -, diese Maßnahme, die sehr stark einschränkende Maßnahme zu machen. Aber mit vorübergehenden, maximal bis zum 30. Juni 2021, begrenzten Einschränkungen wollen wir diese Frage in dieser Phase der Pandemie adressieren. Diese Einschränkungen, die schwerfallen, die hart sind, sind angesichts der Lage angemessen, verhältnismäßig, und sie sind im Übrigen auch geeignet, Frau Kollegin, wie wir in nahezu allen anderen Ländern Europas gesehen haben.
Deswegen, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diese Bundesnotbremse ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses mit intensiven Beratungen und entsprechenden Anpassungen. Und es ist übrigens auch der Wunsch der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die sich einheitliche, verlässliche Regeln wünschen, denen sie vertrauen können.
Und nun werden wir auch diesen schweren, hoffentlich letzten Teil des Pandemiemarathons gut überstehen, wenn wir zusammenstehen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Testgestütztes Öffnen und vor allem das Impfen geben uns die notwendige Perspektive, nach der zu Recht viele fragen. Aber erst braucht es als Brücke ein Brechen dieser Welle. Dem dient dieses Gesetz, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung.